VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 30.11.2022 - 22 K 7927/18.A - asyl.net: M31392
https://www.asyl.net/rsdb/m31392
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz wegen der Haftbedingungen in der Türkei:

1. Die Haftbedingungen in der Türkei entsprechen nach wie vor nicht den in Art. 3 EMRK verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen.

2. Eine Abschiebung wäre nur unter der Voraussetzung zulässig, dass die türkischen Behörden zusichern, dass die räumliche Unterbringung und die sonstige Gestaltung der Haftbedingungen den europäischen Mindeststandards entsprechen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, Haftbedingungen, Überbelegung, medizinische Versorgung, Haft, Haftstrafe, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, subsidiärer Schutz,
Normen: AsylG § 4 Abs. 2 S. 1 Nr. 2, AsylG § 4 Abs. 2 S. 2, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Dem Kläger droht aber eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, namentlich in Bezug auf die Haftbedingungen in der Türkei (hierzu I.). Einer hieraus resultierenden Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus stehen auch keine Ausschlussgründe entgegen (hierzu II.). [...]

Der Kläger ist in der Türkei im Jahr 2002 zu 36 Jahren Haft verurteilt worden. Die Haft hat er am 27. Juni 2002 angetreten. Im Jahr 2016 ist er gegen Auflagen bzw. auf Bewährung aus der Haft entlassen worden. Ihm droht in der Türkei die Vollstreckung der restlichen Haftstrafe, weil er nach seinem Vortrag gegen die Bewährungsauflagen verstoßen und er in Abwesenheit wegen Körperverletzung zu weiteren 16 Monaten Haft verurteilt worden ist. Die drohende Inhaftierung stellt sich auf Grundlage der aktuellen Erkenntnisse über die Haftbedingungen in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung dar.

Das Gericht geht anhand der Erkenntnislage davon aus, dass die Haftbedingungen in der Türkei nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 aufgrund der massenhaften Inhaftierungen auch weiterhin den in Art. 3 EMRK verankerten menschenrechtlichen Mindestanforderungen nicht entsprechen (vgl. in diesem Sinne bereits BVerwG, Beschluss vom 22. Mai 2018 - 1 VR 3/18 -, juris, Rn. 59 ff. unter Verweis auf mehrere Entscheidungen von Oberlandesgerichten in Auslieferungssachen; VG Gießen, Urteil vom 1. Juli 2020 - 4 K 4245/19.GI.A -, Rn. 15 ff., juris; VG Bremen, Urteil vom 12. November 2021 - 2 K 20/19 -, juris, Rn. 25 ff.; VG Cottbus, Urteil vom 18. Januar 2019 - 5 K 962/11.A -, juris, Rn 36 ff.; a. A. indes VG Berlin, Urteil vom 19. Februar 2021 - 37 K 54.18 A -, juris, Rn. 38 f.). [...]

Es besteht in Ansehung dieser verbindlichen Mindeststandards in Bezug auf die Türkei auch gegenwärtig die konkrete Gefahr, dass Betroffene insbesondere wegen der Überbelegung der Haftzellen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sind. Zwar hat sich die materielle Ausstattung der türkischen Haftanstalten in den letzten Jahren deutlich verbessert und die Standards der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) können danach grundsätzlich eingehalten werden. Insbesondere gibt es eine Reihe neuerer oder modernisierter Haftanstalten, bei denen keine Anhaltspunkte für Bedenken bestehen (siehe BFA Länderinformation Türkei, S. 109; auch ÖB Asylländerbericht 2021, S. 11; AA Lagebericht 2021, S. 19). [...]

Die türkischen Haftanstalten sind insgesamt seit Jahren regelmäßig überfüllt und die Inhaftierungsrate ist hoch. U. a. die Überbelegung gibt laut Europäischer Kommission weiterhin Anlass zu tiefer Besorgnis und auch die Österreichische Botschaft in Ankara zählt die Überbelegung, die insbesondere bedingt ist durch eine große Zahl an Verhaftungen nach dem Putschversuch 2016, weiterhin zu den "unbestreitbaren Problemen in den Haftanstalten" [...].

Als in vielen Aspekten, insbesondere aufgrund von Überbelegung, nicht den Erfordernissen der EMRK entsprechende Haftanstalten gelten u.a. die Einrichtungen in Adana-Mersin, Elazığ, Izmir, Kocaeli Gebze, Maltepe, Osmaniye, Şakran, Silivri und Urfa (BFA Länderinformation Türkei, S. 109; ÖB Asylländerbericht 2021, S. 11). [...]

Zwar verabschiedete das türkische Parlament im April 2020 eine Novellierung des Strafvollzugsgesetzes, die angesichts der COVID-19-Pandemie die Freilassung von bis zu 90.000 Gefangenen vorsah. Von den Freilassungen ausgeschlossen waren neben Schwerverbrechern, Sexualstraftätern und Drogen-Delinquenten eine sehr große Zahl von Journalisten, Menschenrechtsverteidigern, Politikern, Anwälten und anderen Personen, die nach Prozessen im Rahmen der allzu weit gefassten Anti-Terror-Gesetze inhaftiert wurden oder ihre Strafe verbüßen. [...]

Unabhängig von der genauen Zahl freigelassener Personen besteht das Problem der Überbelegung jedoch nach den vorliegenden Erkenntnisquellen und in Ansehung der einleitend gezeigten Belegungsgrade fort und nach Medienberichten füllen sich die freigewordenen Gefängniszellen wieder. So wird berichtet, dass Erdogan seit Anfang Juni 2020, Mitten in der Coronakrise, den Kurs gegen die Oppositionellen verschärft hat und hunderte Personen verhaften ließ [...].

Weiterhin sind 8-Mann-Zellen oft mit 20 Personen belegt, die Häftlinge darin müssen reihum auf dem Boden schlafen und es gibt Probleme bei der Verrichtung der Notdurft (Abdullah Irmak an VG Bremen vom 19. Juni 2021 (zu Az. 2 K 20/19), S. 5). [...]

Es kann in Bezug auf den Kläger auch keine weitergehende Beurteilung der konkret drohenden Haftsituation erfolgen, weil aus aktueller Sicht unklar ist, in welcher Haftanstalt dieser die ihm drohende Haftstrafe verbüßen muss. [...]

Folge der voranstehend zusammengefassten Erkenntnisse über jedenfalls weiterhin mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Haftbedingungen, die nicht den zu fordernden Standards der EMRK entsprechen, ist auch vor dem Hintergrund, dass die konkrete Haftanstalt, in der der Kläger seine Haftstrafe verbüßen muss, nicht bekannt und demzufolge die konkret zu erwartenden Haftbedingungen nicht voraussagbar sind, dass eine Abschiebung des Klägers nur unter der Voraussetzung zulässig ist, dass die türkischen Behörden zusichern, dass die räumliche Unterbringung und die sonstige Gestaltung der Haftbedingungen im Falle einer Inhaftierung des Klägers den europäischen Mindeststandards entsprechen (hierzu BVerfG, Beschluss vom 18. Dezember 2017 - 2 BvR 2259/17 -, juris, Rn. 19 m. w. N.; vgl. auch BVerwG, Beschluss vom 22. Mai 2018 - 1 VR 3/18 -, juris, Rn. 62; BVerwG, Beschluss vom 9. November 2017 - 1 VR 9/17 -, juris, Rn. 7). [...]

Im vorliegenden Fall haben die türkischen Behörden hinsichtlich des Klägers bislang ersichtlich keine völkerrechtlich verbindliche Zusicherung zu den Haftbedingungen des Klägers abgegeben. Auch hat das insoweit zuständige Bundesamt bislang eine solche Zusicherung der Republik Türkei nicht eingeholt. Es wäre aber Aufgabe der Exekutive und nicht des Verwaltungsgerichts, diese positive Voraussetzung dafür zu schaffen, dass die hier mit einer Abschiebung des Klägers einhergehende Bedrohung beseitigt wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 18. Dezember 2017 - 2 BvR 2259/17 -, juris, Rn. 24). [...]