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VG Sigmaringen

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Zitieren als:
VG Sigmaringen, Beschluss vom 10.02.2023 - A 5 K 109/23 - asyl.net: M31398
https://www.asyl.net/rsdb/m31398
Leitsatz:

Eilrechtsschutz gegen Dublin-Bescheid wegen fehlender formaler Antragstellung und persönlicher Anhörung:

Erscheint eine schutzsuchende Person nicht zur erkennungsdienstlichen Behandlung und zur Befragung über Reiseweg und Zulässigkeit des Asylantrags und ist deshalb weder ein formaler Asylantrag gestellt, noch die in der Dublin-III-VO vorgesehene persönliche Anhörung durchgeführt worden, kann der Asylantrag nicht gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG als unzulässig abgelehnt und die Abschiebung nicht gemäß § 34a Abs. 1 S. 1 AsylG in den nach Aktenlage zuständigen Mitgliedstaat angeordnet werden. Das Verfahren kann nur wegen Nichtbetreibens gemäß §§ 23 Abs. 2, 33 AsylG eingestellt werden.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylantrag, Dublinverfahren, persönliche Anhörung, Nichtbetreiben des Verfahrens, Asylantragstellung, Unzulässigkeit, Reiseweg, persönliches Gespräch, Einstellung, Abschiebungsanordnung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, VO 604/2013 Art. 5, AsylG § 14 Abs. 1, AsylG § 23 Abs. 2 S. 1, AsylG § 33 Abs. 1, AsylG § 33 Abs. 5
Auszüge:

[...]

21 Die Interessenabwägung fällt hier zu Gunsten der Antragstellerin aus. Die Anordnung ihrer Abschiebung nach Malta auf der Grundlage von § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG in Nummer 3 des angefochtenen Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 05.01.2023 begegnet bei Anlegung dieses Maßstabs derzeit beträchtlichen rechtlichen Bedenken. Denn die formalen Voraussetzungen für eine Entscheidung über den Asylantrag – bzw. seine Zulässigkeit – lagen noch nicht vor. Die Antragstellerin hat(te) noch keinen förmlichen Asylantrag i.S.d. § 14 Abs. 1 AsylG gestellt, sondern vorerst nur ein Asylgesuch geäußert [...]. Sie ist bereits zum auf den 27.09.2022 anberaumten Termin zur Aktenanlage und zur erkennungsdienstlichen Behandlung nicht erschienen und hat damit nach Aktenlage – damals in einer Aufnahmeeinrichtung aufgenommen – gegen ihre Obliegenheiten aus § 23 Abs. 1 AsylG verstoßen. Für diesen Fall sieht § 23 Abs. 2 Satz 1 AsylG die entsprechende Anwendung von § 33 Abs. 1, 5 und 6 AsylG vor (eine unmittelbare Anwendbarkeit dieser Bestimmungen scheidet mangels Vorliegen eines förmlichen Asylantrags aus, vgl. Bergmann, a.a.O.). [...]

22-26 Demgegenüber ist eine Rechtsgrundlage für die hier getroffene Entscheidung – eine Unzulässigkeitsentscheidung nach Aktenlage und ohne Anhörung der Betroffenen zur Zulässigkeit des Asylantrags – nicht erkennbar [...].

27 Im summarisch zu führenden Eilverfahren mit seinen beschränkten Aufklärungsmöglichkeiten geht der Einzelrichter davon aus, dass ein entsprechendes Nichtbetreiben des Verfahrens seitens der Antragstellerin vorlag und dass sie ordnungsgemäß über die vom Gesetz für diesen Fall vorgesehenen Rechtsfolgen belehrt worden ist. Sie ist zum Termin zur Aktenanlage am 27.09.2022, zu dem sie gegen persönliche Empfangsbestätigung geladen war, nicht erschienen. Ferner ist zugrunde zu legen, dass sie nach altem Recht über die Rechtsfolgen auch des § 23 Abs. 2 AsylG zutreffend belehrt worden ist (auch wenn dem Einzelrichter eine inhaltliche Prüfung der nur auf Arabisch dokumentierten, aber von der Antragstellerin jedenfalls unterzeichneten Belehrung nicht möglich ist). Selbst wenn die Hinweise auf die Rechtsfolgen des § 23 Abs. 2 AsylG im Übrigen nicht zutreffend, unvollständig oder sonst fehlerhaft gewesen sein sollten oder auch gänzlich fehlen würden, hätte das Bundesamt keine Entscheidung über den Asylantrag (oder seine Zulässigkeit) in der Sache treffen dürfen, sondern die ordnungsgemäße Belehrung nachholen und einen erneuten Termin zur Asylantragstellung bestimmen müssen (so ausdrücklich: Merz, in: GK-AsylG, Stand: März 2019, § 23, Rn. 21). [...]

30 Nach den vorstehenden Ausführungen zur Unzulässigkeit einer Entscheidung über den Asylantrag – statt der vorrangigen Verfahrenseinstellung oder der Nachholung etwaig erforderlicher Belehrungen – kommt es nicht mehr darauf an, wie sich der Umstand auswirkt, dass sich die Antragstellerin noch vor Erlass des angefochtenen Bescheids per Mail an das Bundesamt gewandt und explizit um Hilfe und ein Anhörungsdatum gebeten hat. Jedenfalls wird dadurch die der Negativfeststellung des Bundesamts zum Vorliegen von Abschiebungsverboten unterlegte Begründung, bereits wegen eines vorgeblichen "augenscheinlichen Desinteresses" der Antragstellerin an der Weiterführung des Asylverfahrens liege die Annahme einer Verfolgungsfurcht oder erheblicher zielstaatsbezogener Gefahren fern, nachdrücklich in Frage gestellt. Ebenso wenig muss der Einzelrichter der Frage nachgehen, ob die – hierzu nicht angehörte – Antragstellerin Anhaltspunkte für eine Vulnerabilität aufweist und ob ihr bei Rücküberstellung nach Malta ggf. eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen könnte. [...]