LG Landshut

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Zitieren als:
LG Landshut, Beschluss vom 31.03.2023 - 65 T 580/23 - asyl.net: M31409
https://www.asyl.net/rsdb/m31409
Leitsatz:

Rechtswidrigkeit der Anordnung des Ausreisegewahrsams gegen Drittstaatsangehörigen aus der Ukraine:

1. Die Anordnung von Ausreisegewahrsam erfordert ein Verhalten, das erwarten lässt, dass die in Ausreisegewahrsam zu nehmende Person die Abschiebung erschweren oder vereiteln wird.

2. Jedenfalls kann daraus, dass die Person sich bemüht, die Voraussetzungen für einen durch die Ausländerbehörde in Aussicht gestellten Aufenthaltstitel zu schaffen, nicht geschlossen werden, dass sie sich der Abschiebung entziehen werde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ausreisegewahrsam, Abschiebungshaft, Ermessen, Ermessensausübung
Normen: AufenthG § 62b Abs. 1, FamFG § 62
Auszüge:

[...]

Neben dem Ablaufen der Ausreisepflicht über einen nicht nur unerheblichen Zeitraum und der Feststellung, dass die Abschiebung innerhalb der Frist des verhängten Ausreisegewahrsams vollzogen werden kann, erfordert die Anordnung von Ausreisegewahrsam gem. § 62b Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, dass der Ausländer ein Verhalten gezeigt hat, das erwarten lässt, dass er die Abschiebung erschweren oder vereiteln wird. Ein solches Verhalten wird vermutet, wenn er seine gesetzlichen Mitwirkungspflichten verletzt hat, über seine Identität oder Staatsangehörigkeit getäuscht hat, wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen von insgesamt bis zu 50 Tagessätzen außer Betracht bleiben, oder die Frist zur Ausreise um mehr als 30 Tage überschritten hat.

Von der Anordnung des Ausreisegewahrsams ist auch bei Vorliegen dieser Voraussetzungen abzusehen, wenn der Ausländer glaubhaft macht oder wenn offensichtlich ist, dass er sich der Abschiebung nicht entziehen will. [...]

3. Zweifelhaft erscheint aber, ob der Betroffene tatsächlich ein Verhalten gezeigt hat, das erwarten lässt, dass er die Abschiebung erschweren oder vereiteln wird. Zwar war vorliegend die Ausreisefrist um mehr als 30 Tage überschritten, so dass ein solches Verhalten kraft Gesetzes vermutet wird. Allerdings war die Abschiebung aufgrund Bescheides der Ausländerbehörde vom 07.10.2022 bis zum 07.01.2023 gemäß § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG, also aus persönlichen oder humanitären Gründen, ausgesetzt. Dieser Zeitraum der Duldung des Betroffenen aus persönlichen oder humanitären Gründen kann bei der Beurteilung, ob die Ausreisefrist erheblich überschritten wurde, nach Ansicht der Beschwerdekammer daher nicht berücksichtigt werden. Denn durch die Duldung wird seitens der Ausländerbehörde gerade zum Ausdruck gebracht, dass der Betroffene in diesem Zeitraum mit einer Abschiebung nicht zu rechnen hat. Würde der Zeitraum einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG bei der Bemessung der Dauer des Überschreitens der Ausreisefrist im Sinn von § 62b AufenthG mitberechnet, müsste ein Ausländer am ersten Tag nach dem Ablauf der Duldung ausreisen, um keinen Ausreisegewahrsam zu riskieren. [...] Jedenfalls eine schriftliche Information oder eine eindeutige mündliche des Betroffenen hat dann aber nicht stattgefunden; stattdessen hat die Ausländerbehörde den Ausreisegewahrsam beantragt. Der Betroffene selbst hat im Rahmen seiner Anhörung angegeben, zwar in Deutschland wegen der hier bestehenden beruflichen Möglichkeiten bleiben zu wollen, aber nicht gegen die geltenden Vorschriften verstoßen zu wollen, sondern das erfüllen gewollt zu haben, was ihm seine Verfahrensbevollmächtigte erläutert hatte. Bei dieser Sachlage ist nach Ansicht der Beschwerdekammer fraglich, ob in dem Verhalten des Betroffenen, also in der Anmeldung zum Sprachkurs, in der Anmeldung bei der Hochschule, in der Suche und Anmietung einer Wohnung, tatsächlich ein Verhalten gesehen werden kann, das darauf hindeutet, dass er sich der Abschiebung entziehen will. Nachvollziehbar und nicht ausschließbar erscheint nämlich auch, dass der Betroffene versucht hat, die Voraussetzungen für einen Aufenthaltstitel zu schaffen, den die Ausländerbehörde ihm mit ihrem Bescheid vom 24.10.2022 und ihrer E-Mail vom 17.11.2022 auch in Aussicht gestellt hatte. Aus hiesiger Sicht muss die Ausländerbehörde, wenn sie sich von einem früheren Inaussichtstellen von aufenthaltsrechtlichen Möglichkeiten unter bestimmten Auflagen aus irgendeinem Grund distanzieren will, dies eindeutig und nachvollziehbar tun und klar und unmissverständlich an den Betroffenen kommunizieren. Aus dem Verhalten des Betroffenen, das dieser im Einklang mit den Auskünften der Ausländerbehörde in die Wege geleitet hat, zu schließen, er werde sich der Abschiebung entziehen, ist jedenfalls in einer solchen Sachverhaltskonstellation nicht möglich. [...]