VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 22.03.2023 - 12 S 474/22 - asyl.net: M31430
https://www.asyl.net/rsdb/m31430
Leitsatz:

Notwendigkeit der familiären Lebensgemeinschaft vor Weiterwanderung des Daueraufenthaltsberechtigten:

1. Reist eine drittstaatsangehörige Person im Besitz eines von einem anderen Schengen-Staat ausgestellten nationalen Aufenthaltstitels mit der Absicht des dauerhaften Verbleibs in Deutschland ein, ist sie nicht von der Einholung eines erforderlichen nationalen Visums befreit.

2. Für die Herleitung eines rechtmäßigen Aufenthalts aus Art. 16 Abs. 1 RL 2003/109/EG ist es notwendig, dass die Familie als familiäre Lebensgemeinschaft bereits vor der Weiterwanderung des Daueraufenthaltsberechtigten im ersten Mitgliedstaat bestand.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Drittstaatsangehörige, Daueraufenthalt, Daueraufenthaltsberechtigte, freizügigkeitsberechtigt, Familienangehörige, Daueraufenthaltsrichtlinie, Weiterwanderung, familiäre Lebensgemeinschaft,
Normen: RL 2003/109/EG Art. 16 Abs. 1, SDÜ Art. 21 Abs. 1, AufenthG § 32 Abs. 1 bis 4, VwGO § 80 Abs. 5, VwGO § 123
Auszüge:

[...]

b) Der Senat teilt des Weiteren die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass der Antragsteller einen rechtmäßigen Aufenthalt nicht aus Art. 21 Abs. 1 des Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. Juni 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (SDÜ) herleiten kann. [...] Denn reist ein Ausländer, der - wie der Antragsteller - im Besitz eines von einem anderen Schengen-Staat ausgestellten nationalen Aufenthaltstitels ist (dessen Rechtmäßigkeit von dem Verwaltungsgericht im angefochtenen Beschluss im Übrigen anders als vom Antragsgegner im Verwaltungsverfahren nicht in Zweifel gezogen wurde), mit der Absicht dauerhaften Verbleibs ins Bundesgebiet ein, ist er nicht gemäß § 4 Abs. 1 AufenthG i.V.m. Art. 21 Abs. 1 SDÜ von der vorherigen Einholung des für Daueraufenthalte erforderlichen nationalen Visums befreit (vgl. OVG Bremen, Urteil vom 09.03.2020 - 2 B 318/19 -, juris Rn 9 m.w.N.; Hailbronner in: Hailbronner, AuslR, 1. Erlaubnisfiktion, Abs. 3 S. 1, Rn. 22; Dienelt in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 38a AufenthG Rn. 25). [...]

c) Die Richtigkeit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung wird ferner nicht durch die pauschale Behauptung des Antragstellers erschüttert, nicht nur seine Mutter, sondern auch er selbst dürfte sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts auf Art. 11 und 12 der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (Daueraufenthaltsrichtlinie - RL 2003/109/EG) berufen können. [...]

Insbesondere hat der Antragsteller keinen tschechischen Aufenthaltstitel zur Umsetzung des Daueraufenthaltsrechts - EU vorgelegt, aus dem sich ein solches Recht ergeben würde. Denn bei dem von ihm vorgelegten Titel ("travlý pobyt 60") handelt es sich nicht um einen Aufenthaltstitel, der die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten vermittelt. Ein solcher trägt in Tschechien vielmehr die Bezeichnung "povolení k pobytu pro dlouhodobě pobývajícího rezidenta - ES" (vgl. Die-nelt in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 38a AufenthG Rn. 17; Maor in: Kluth/Hornung/Koch, Handbuch Zuwanderungsrecht, 3. Aufl. 2020, § 4 Aufenthalt, Rn. 1273). Aufenthaltstitel, die nicht derart gekennzeichnet sind - entscheidend ist in der Praxis insbesondere das "EG" oder "EU" entsprechende Kürzel in der jeweiligen Landessprache - stellen im Zweifel keine ausreichen-den Berechtigungen dar (vgl. Maor in: Kluth/Hornung/Koch, Handbuch Zuwanderungsrecht, 3. Aufl. 2020, § 4 Aufenthalt, Rn. 1273; vgl. auch Dienelt in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 38a AufenthG Rn. 13).

d) Schließlich wird mit dem Beschwerdevorbringen auch nicht die Auffassung des Verwaltungsgerichts durchgreifend infrage gestellt, der Antragsteller könne einen rechtmäßigen Aufenthalt nicht aus Art. 16 Abs. 1 RL 2003/109/EG herleiten. [...]

Art. 16 Abs. 1 RL 2003/109/EG bestimmt: Übt der langfristig Aufenthaltsberechtigte sein Aufenthaltsrecht in einem zweiten Mitgliedstaat aus und bestand die Familie bereits im ersten Mitgliedstaat, so wird den Angehörigen seiner Familie, die die Bedingungen des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie 2003/86/EG erfüllen, gestattet, den langfristig Aufenthaltsberechtigten zu begleiten oder ihm nachzureisen. Das Vorliegen dieser Voraussetzungen legt der Antragsteller nicht dar. Insoweit trägt er vor, entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts sei eine Familienzusammenführung in Tschechien erfolgt. Er sei nicht erst am 14.12.2019, sondern bereits am 14.11.2019 in die Tschechische Republik eingereist. Er habe dort ordnungsgemäß seinen Wohnsitz genommen und einen entsprechenden Aufenthaltstitel erhalten. Seine Mutter habe in Tschechien nach wie vor ihren Wohnsitz.

Damit ist nicht dargelegt, dass die Familie des Antragstellers - als familiäre Lebensgemeinschaft bestehend aus ihm und seiner Mutter - bereits in der Tschechischen Republik bestand. [...]

Die Beschwerde zeigt nicht auf, dass die Familie - im Sinne einer familiären Lebensgemeinschaft - schon vor der Weiterwanderung der daueraufenthaltsberechtigten Mutter des Antragstellers in der Tschechischen Republik als erstem Mitgliedstaat bestanden hätte. Denn seine Mutter reiste nach den unbestrittenen Feststellungen im streitgegenständlichen Bescheid des Landratsamts Breisgau-Hochschwarzwald vom 23.10.2020 erstmals am 01.02.2017 - und mithin lange vor dem 14.11.2019, dem Zeitpunkt der Einreise des Antragstellers in Tschechien - mit einem langfristig gültigen tschechischen Aufenthaltstitel mit der Bezeichnung "povolení k pobytu pro dlouhodobě pobývajícího rezidenta - ES" in die Bundesrepublik Deutschland ein und machte damit von ihrem Weiterwanderungsrecht Gebrauch. Dass in der Folgezeit eine wesentliche Zäsur eingetreten wäre, die auf eine spätere erneute Weiterwanderung der Mutter aus Tschechien nach Deutschland schließen ließe, an die der Nachzug des Antragstellers im Sinne von Art. 16 Abs. 1 RL 2003/109/EG anknüpfen könnte, legt die Beschwerde nicht dar. Sie verhält sich nicht dazu, dass das Verwaltungsgericht festgestellt hat, dass die Mutter des Antragstellers bereits im Jahr 2017 nach Deutschland weitergereist und seitdem hier berufstätig sei. [...]

Der somit nach Art. 16 Abs. 5 RL 2003/109/EG den Nachzugsvoraussetzungen der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (RL 2003/86/EG - Familienzusammenführungsrichtlinie) unterfallende Antragsteller bedurfte daher jedenfalls nach Art. 5 Abs. 3, Art. 13 Abs. 1 RL 2003/86/EG zur Einreise eines Visums (vgl. Hessischer VGH, Beschluss vom 23.02.2023 - 6 B 775/22 -, juris Rn. 16), über das der Antragsteller indes nicht verfügte, weshalb sein Aufenthalt auch nach dieser Vorschrift nicht rechtmäßig war. [...]

b) Das Beschwerdevorbringen vermag auch nicht die Auffassung des Antragsgegners und des Verwaltungsgerichts in Zweifel zu ziehen, dass der Antragsteller keinen Anspruch nach § 32 Abs. 1, 2 und 3 AufenthG glaubhaft gemacht habe. [...]

aa) Ohne Erfolg macht der Antragsteller geltend, entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts sei davon auszugehen, dass er die deutsche Sprache beherrsche. [...]

bb) Es kann auch nicht mit der Beschwerde festgestellt werden, dass entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts gewährleistet erscheint, dass sich der Antragsteller aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann (§ 32 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 AufenthG). Hinreichende Umstände hierfür legt die Beschwerde nicht dar. Sie bringt vor, aufgrund des Zeugnisses des Antragstellers, das bescheinige, dass er die Berufsschule erfolgreich besuche und Noten von gut bis befriedigend habe, sei davon auszugehen, dass er sich sogar bereits in die hiesigen Lebensverhältnisse eingefügt habe. [...] Auf der anderen Seite kann aber nicht außer Acht gelassen werden, dass der im Jahr 2003 geborene Antragsteller nach Aktenlage lediglich die Sprachstandserhebung auf Niveaustufe A 2 erfolgreich abgelegt hat (Bescheinigung der G.-L.-Gewerbeschule vom 21.06.2021 und Zeugnis der G.-L.-Gewerbeschule vom 28.07.2021), was für sich eine positive Integrationsprognose nicht zu rechtfertigen vermag, da ansonsten das alternative Tatbestandsmerkmal des Beherrschens der deutschen Sprache in § 32 Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG unterlaufen würde. Sonstige Umstände, die eine positive Integrationsprognose rechtfertigen könnten, werden von der Beschwerde nicht substantiiert dargetan.

c) Die Beschwerde erschüttert des Weiteren nicht die Annahme des Verwaltungsgerichts, die Voraussetzungen eines Anspruchs nach § 32 Abs. 4 Satz 1 AufenthG lägen nicht vor. [...] Grundvoraussetzung für die Annahme einer besonderen Härte ist demzufolge der Eintritt eines Umstands, den die Eltern bei ihrer früheren Entscheidung, das Kind nicht nach Deutschland nachzuholen, nicht in Rechnung stellen konnten. Die Änderung der Lebensumstände muss danach nicht durch die Ausreise der Eltern oder des Elternteils, sondern nach ihrer Ausreise eingetreten sein, ohne dass dies zuvor absehbar war (vgl. Dienelt in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 32 AufenthG Rn. 89). [...]

Abgesehen davon scheidet ein Anspruch nach § 32 Abs. 4 AufenthG auch des-halb aus, weil der Antragsteller mittlerweile volljährig ist. Im Rahmen des § 32 Abs. 4 AufenthG ist - anderes als bei § 32 Abs. 1 bis 3 AufenthG - nicht auch auf den Zeitpunkt der Antragstellung (zu dem der Antragsteller zwar schon das 16., aber noch nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte) abzustellen (vgl. Dienelt in: Bergmann/Dienelt, AuslR, 14. Aufl. 2022, § 32 AufenthG Rn. 109 f.). [...]