VG München

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Zitieren als:
VG München, Urteil vom 17.08.2022 - M 17 K 22.30700 - asyl.net: M31441
https://www.asyl.net/rsdb/m31441
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz wegen innerstaatlichen bewaffneten Konflikts im Jemen:

1. Die Gefahrendichte ist im gesamten Staatsgebiet des Jemen so hoch, dass eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit für die Zivilbevölkerung besteht.

2. Die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, die zumindest teilweise mit Absicht erfolgt, ist enorm.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Jemen, extreme Gefahrenlage, subsidiärer Schutz, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Huthi, Gefahrendichte, erhebliche individuelle Gefahr, interner Schutz, interne Fluchtalternative,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, AsylG § 3e Abs. 1
Auszüge:

[...]

26 2. Gemessen an diesen Maßstäben ist von einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens und der Unversehrtheit der Klagepartei infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts bei einer Rückkehr in den Jemen auszugehen.

27 Im Jemen herrscht seit 2014 Bürgerkrieg zwischen den jemenitischen Regierungstruppen, den Huthis "als stärkste nichtstaatliche Miliz der Arabischen Halbinsel" und im weiteren Verlauf dem Südübergangsrat (Southern Transitional Council, STC) (BAMF, Länderreport Jemen, Die Houthis, Februar 2022, S. 8 ff.). Ebenso ist Al-Qaida im Jemen präsent (European Union Agency for Asylum (EUAA), Legislation and Access to Basic Services Regarding Yemeni Rerturnees, 2.3.2022, S. 4). Auch ausländische Nationen, wie Saudi-Arabien und der Iran, sind auf unterschiedlichen Seiten an dem bewaffneten Konflikt beteiligt (Congressional Research Service (CRS), Civil War and Regional Intervention, 12.3.2021, Summary, S. 1, 6 ff.). Das Land ist instabil und von bewaffneten Konflikten geprägt. Es bestehen erhebliche Sicherheitsrisiken. Die Entwicklung der Lage ist ungewiss. Es finden regelmäßig Luftangriffe auf verschiedene Ziele statt (Bundesamt für Asyl- und Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Jemen, 17.12.2021, S. 14). Teile des Landes sind von täglichen Bombardierungen, Raketenangriffen und Kampfhandlungen am Boden betroffen. Die fortdauernden Kampfhandlungen stellen für die Zivilbevölkerung weiterhin eine erhebliche Gefährdung dar. Ein Ende des Jemen-Konflikts ist nicht absehbar (Bundesamt für Asyl- und Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Jemen, 17.12.2021, S. 15). [...]

31 Trotz der unterschiedlichen Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle und Tötungen in den verschiedenen Gouvernements, wobei die veröffentlichten Zahlen wie gezeigt meist nicht zwischen Zivilisten und Kombattanten unterscheiden, geht die erkennende Einzelrichterin in einer Gesamtschau aller relevanten Gesichtspunkte von einer Gefahrverdichtung für alle Zivilpersonen i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AsylG im gesamten Staatsgebiet des Jemen aus (so auch Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, GB v. 17.6.2021 - 9 A 114/29 - juris), weshalb eine Differenzierung nach Herkunftsregion der Klagepartei nicht notwendig ist. [...]

33 Die medizinische Versorgungslage im Jemen wird hinsichtlich weiter Landesteilen als unzureichend bezeichnet, eine Notfallversorgung mit funktionierender Rettungskette meist nicht existent. Es muss daher mit maximalen Einschränkungen der medizinischen Versorgung in und außerhalb der Hauptstadt … gerechnet werden. Nur noch die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen im Land ist geöffnet. 273 Distrikte (82%) benötige dringend medizinische Hilfe, darunter 34 schwer erreichbare Distrikte. Alle Konfliktparteien behinderten humanitäre Hilfe. Die Konfliktparteien behindern die Versorgung mit, unter anderem, Medikamenten (Bundesamt für Asyl- und Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Jemen, 17.12.2021, S. 42 f.; UK Home Office, Country Policy and Information Note, Dezember 2021, S. 29).

34 Die Aggression der Konfliktparteien gegen Zivilpersonen, die zumindest teilweise mit Absicht erfolgt, ist enorm.

35 Die Huthi führten wiederholt wahllose Angriffe auf zivile Gebiete durch und blockierten humanitäre Hilfe (Bundesamt für Asyl- und Fremdenwesen, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Jemen, 17.12.2021, S. 16). Der wahllose Einsatz von Landminen und improvisierten Sprengkörpern durch die Huthis ist systematisch. Es werden verheerende Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung dokumentiert. [...]

36 Auch die von Saudi-Arabien geführte Koalitionstruppen führten Luftangriffe durch, bei denen wahllos Zivilisten getötet und verletzt wurden. Bei fast einem Drittel aller von der Koalition durchgeführten Luftangriffe wurden zivile Objekte wie Wohnhäuser, Krankenhäuser, Schulen, Hochzeiten, Bauernhöfe, Lebensmittelgeschäfte, Schulbusse, Märkte, Moschee, Brücken, zivile Fabriken und Wasserbrunnen getroffen (UK Home Office, Country Policy and Information Note, Dezember 2021, S. 41).

37 Sowohl die von Saudi-Arabien geführte Koalition als auch die Huthi-Truppen feuerten Mörser und Raketen in dicht besiedelte Gebiete, wodurch Zivilisten getötet oder verwundet und kritische Infrastruktur wie Schulen und Gesundheitseinrichtungen beschädigt wurden (UK Home Office, Country Policy and Information Note, Dezember 2021, S. 42; vgl. UNHCR, Position on Returns to Yemen - Update, 1.2.2021, S. 8 f.). [...]