OVG Thüringen

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Zitieren als:
OVG Thüringen, Beschluss vom 14.02.2023 - 3 ZKO 290/21 - asyl.net: M31443
https://www.asyl.net/rsdb/m31443
Leitsatz:

Ableitung bei Familienschutz nur begrenzt möglich und familiäre Belange bei zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten unbeachtlich:

1. Eine Person, die selbst gemäß § 26 Abs. 3 S. 1 AsylG Familienschutz (auch: Familienasyl) wegen des Schutzstatus der Ehepartnerin/des Ehepartners erhalten hat, kann einem Kind keinen Schutz gemäß § 26 Abs. 2 AsylG vermitteln. Denn die Regelungen des Familienschutzes ermöglichen keine Ableitungsketten, mit denen Personen einen abgeleiteten Familienschutz aus abgeleitetem Familienschutz erlangen können.

2. Kindeswohl und schutzwürdige familiäre Bindungen stellen keine zielstaatsbezogenen Abschiebungshindernisse dar und sind im Rahmen des § 60 Abs. 5 AufenthG nicht zu beachten. Dem steht der Vorlagebeschluss des BVerwG vom vergangenen Jahr nicht entgegen (Beschluss vom 08.06.2022 - 1 C 24.21 - asyl.net: M30884). Demnach sei zwar zweifelhaft, ob die hiesige Rechtslage mit dem Unionsrecht vereinbar ist, wonach eine Rückkehrentscheidung ungeachtet möglicher inlandsbezogener Abschiebungshindernisse aus familiären Gründen ergehen kann. Der hier zu entscheidende Antrag auf Zulassung der Berufung hat aber nur die Frage aufgeworfen, ob solche familiären Umstände im Rahmen der Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG zu berücksichtigen sind und nicht, ob diese bei Erlass einer Rückkehrentscheidung zu beachten sind.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienschutz, Familienasyl, Abschiebungshindernis, Abschiebungsverbot, zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, Kindeswohl,
Normen: AsylG § 26 Abs. 3 S. 1, AsylG § 26 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 5, RL 2008/115/EG Art. 5 Bst. a
Auszüge:

[...]

Nach § 26 Abs. 5 i. V. m. § 26 Abs. 4 S. 2 AsylG gilt die Regelung zum Familienasyl nach § 26 Abs. 2 AsylG nicht für Kinder eines Ausländers, dem selbst nach Absatz 2 oder Absatz 3 die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt wurde. Die hier vorliegende Konstellation, in der die Mutter des Klägers nach § 26 Abs. 5, Abs. 3 S. 1 AsylG internationalen Schutz erhalten hat und der Kläger Schutz nach § 26 Abs. 5, Abs. 2 AsylG begehrt, fällt unter den Wortlaut dieser Vorschrift. [...]

Die Regelung zielt eindeutig darauf, Ableitungsketten auszuschließen, ohne Familienangehörigen des Schutzberechtigten die Möglichkeit zu nehmen, einen Asylantrag auf eigene Verfolgungsgründe zu stützen (BVerwG, Beschluss vom 21. Dezember 2021 - 1 B 35/21 - und bereits zur früheren Rechtslage Urteil vom 16. August 1993 - 9 C 7/93 -, jeweils juris). [...]

Die dritte Frage, ob einem minderjährigen Kind ein Abschiebungsschutz zugestanden werden muss, wenn es ihm unzumutbar und nur unter Verletzung von Art. 6 GG möglich wäre, allein in das Land zurückzukehren, ist nicht klärungsbedürftig. Die Frage, ob eine Verletzung von Art. 6 GG/Art. 8 EMRK im Rahmen des nationalen Abschiebungsschutzes bei der Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG zu prüfen ist, ist bereits höchstrichterlich geklärt. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 31. Januar 2013 - 10 C 15/12 - und zur Vorgängerregelung in § 53 Abs. 4 AuslG Urteil vom 11. November 1997 - 9 C 13/96 - , jeweils juris) umfasst der Verweis auf die EMRK in § 60 Abs. 5 AufenthG lediglich Abschiebungshindernisse, die auf einen bestimmten Zielstaat bezogen sind, also in Gefahren begründet liegen, welche dem Ausländer im Zielstaat der Abschiebung drohen (sog. "zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse") und nicht Abschiebungshindernisse, die durch die Durchführung der Abschiebung als solche entstehen, etwa wegen schutzwürdiger familiärer Bindungen in Deutschland.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Vorabentscheidungsersuchen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, EuGH-Vorlage vom 8. Juni 2022 ‑ 1 C 24/21 ‑, juris). Denn das Bundesverwaltungsgericht wirft dort die Frage auf, ob Art. 5 Halbs. 1 Buchst. a und b der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) einer gegen einen minderjährigen Asylsuchenden erlassenen Abschiebungsandrohung (Rückkehrentscheidung) entgegensteht, wenn dem Minderjährigen das Verlassen des Mitgliedstaats wegen seiner schutzwürdigen familiären Bindungen (Art. 7 und 24 Abs. 2 EUGR-Charta, Art. 8 EMRK) nicht zugemutet werden kann. Die vom Kläger im Zulassungsantrag aufgeworfene Frage bezieht sich jedoch darauf, ob Art. 8 EMRK im Rahmen eines nationalen Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG zu prüfen ist. [...]