VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Gerichtsbescheid vom 15.11.2022 - 20 K 3733/22.A - asyl.net: M31450
https://www.asyl.net/rsdb/m31450
Leitsatz:

Aufhebung eines Drittstaatenbescheides bezüglich Bulgariens:

Die Lage von Personen mit Schutzstatus ist aussichtslos. Im bulgarischen Asyl- und Aufnahmesystem liegen systemische Mängel vor, die alle Bereiche des bulgarischen Asylsystems erfassen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Bulgarien, internationaler Schutz in EU-Staat, Abschiebungsandrohung, Abschiebungsverbot, Anerkannte, Aufnahmebedingungen, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Hinsichtlich Bulgarien entspricht es der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Gerichts, das dort systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen vorliegen, die alle Bereiche des bulgarischen Asylsystems erfassen und die für jeden einzelnen das tatsächliche Risiko begründen, einer Verletzung seiner Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta ausgesetzt zu sein.

Die Lage von Personen mit Schutzstatus in Bulgarien ist aussichtslos. Seit dem Auslaufen des Nationalen Integrationsprogramms im Jahr 2013 gibt es bis heute kein operatives Integrationsprogramm mehr in Bulgarien und damit ist auch in absehbarer Zukunft nicht zu rechnen. Seit dem 19.07.2017 gibt es eine Integrationsverordnung, die den Abschluss von Integrationsvereinbarungen zwischen anerkannten Flüchtlingen und Bürgermeistern von Gemeinden zu allen wichtigen Lebensbereichen wie z.B. Unterkunft, Sprachkurse und Schule vorsieht. In der Praxis ist diese allerdings nahezu wirkungslos. Personen mit Schutzstatus haben zwar formal bis zu einem Zeitraum von 6 Monaten nach der positiven Entscheidung einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung in Höhe des Minimums der staatlichen Sozialhilfe in Bulgarien. Dieser Betrag reicht jedoch anerkanntermaßen nicht aus, um selbst grundlegende Bedürfnisse wie Nahrung und Unterkunft zu befriedigen oder Zugang zur Gesundheitsversorgung zu erlangen. Die einzige Option zur Erlangung einer Unterkunft während dieser sechsmonatigen Zeit besteht in dem weiteren Verbleib in einem der Aufnahmezentren, was nur ausnahmsweise der Fall ist. Haben Schutzberechtigte eine Unterkunft zwischenzeitlich aus irgendwelchen Gründen verlassen, werden sie dort regelmäßig nach einer Rückkehr nicht mehr untergebracht. Außerhalb der Aufnahmezentren besteht ein hohes Risiko von Obdachlosigkeit, das wegen des Fehlens eines Integrationsprogramms dadurch erhöht wird, dass Flüchtlinge keinerlei finanzielle Unterstützung wie Wohngeld erhalten und auch keine Unterkunft in Obdachlosenunterkünften oder Sozialwohnungen finden können. Der Erhalt eines Schutzstatus bedeutet daher in der Regel Obdachlosigkeit. Ohne Wohnung ist auch der Zugang zu jeglichen anderen staatlichen und medizinischen Leistungen unmöglich, da hierfür eine Meldeadresse vorgewiesen werden muss. Mangels Integrationsprogramm, ohne Sprachkenntnisse und in Abwesenheit von Sozialarbeitern ist dies Schutzberechtigten nahezu unmöglich. Ebenso aussichtslos sind die Möglichkeiten, sich durch Erwerbstätigkeit das Existenzminimum zu sichern, zumal unter den in Bulgarien herrschenden schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit einer ohnehin hohen Arbeitslosenquote. Nur wenige Schutzberechtigte haben bislang überhaupt eine Arbeit gefunden und wenn, dann entweder in schlecht bezahlten unqualifizierten Jobs oder bei Arbeitgebern gleicher Herkunft, die sich vornehmlich in Sofia ein Geschäft aufgebaut haben. Auch der Zugang zu Schule/Bildung ist für Flüchtlingskinder erschwert. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist für Personen mit Schutzstatus ebenfalls nicht gewährleistet. Der monatliche Beitrag für das Gesundheitssystem muss selbst bezahlt werden, eine staatliche Unterstützung gibt es hierfür nicht. Selbst wenn der Beitrag irgendwie aufgebracht werden kann, sind Aufwendungen für Arzneimittel und psychologische Behandlung nicht abgedeckt. Auch kassenfinanzierte Leistungen können kaum in Anspruch genommen werden, da man hierzu auf eine Patientenliste eines Hausarztes gelangen muss, was oft mit unüberwindbaren Schwierigkeiten verbunden ist (vgl. aida, Country Report Bulgaria – jährliche Updates 2018, 2019, 2020 und zuletzt 2021; bordermonitoring.eu, Get Out! Zur Situation von Geflüchteten in Bulgarien, Juni 2020; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Bericht vom 30.08.2019: Bulgarien – Aktuelle Situation für Asylsuchende und Personen mit Schutzstatus; Auswärtiges Amt, Auskünfte an VG Potsdam vom 16.01.2019, an Niedersächsisches OVG vom 18.07.2017, an VG Stuttgart vom 23.07.2015 und an VG Hamburg vom 30.11.2015; Botschaft Sofia, Auskunft an das Auswärtige Amt vom 01.03.2018; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Republik Österreich, Anfragebeantwortung vom 19.07.2021 zu Bulgarien – Situation von subsidiär Schutzberechtigten und Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Bulgarien, Gesamtaktualisierung vom 27.11.2017; Rechtsanwältin Dr. Valeria Ilareva, Expertise zu der aktuellen rechtlichen, wirtschaftlichen und sozialen Situation anerkannter Schutzberechtigter in Bulgarien vom 04.04.2017 und Bericht über die derzeitige rechtliche, wirtschaftliche und soziale Lage anerkannter Flüchtlinge und subsidiär Schutzberechtigter in Bulgarien vom 27.08.2015; Muiznieks-Report (Menschenrechtskommissar des Europarats) vom 22.06.2015; UNHCR, Überblick über den Zugang zu Bildung für Personen unter dem Mandat von UNHCR in Bulgarien, Juni 2015). [...]

Das Gericht hat nach alledem keinen Zweifel, dass für Personen mit Schutzstatus in Bulgarien unverändert das tatsächliche Risiko einer Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GR-Charta besteht. [...]

Hinzu kommen seit dem 24.02.2022 die Auswirkungen des Zustroms ukrainischer Flüchtlinge nach Bulgarien. Seit Beginn des Krieges in der Ukraine sind mehr als 300.000 Menschen in Bulgarien angekommen, ca. 90.000 – 120.000 haben nach Angaben der Regierung vorübergehenden Schutz und Unterkunft erhalten. Ein großzügiges Unterbringungsprogramm für die Flüchtlinge in Hotels an der Schwarzmeerküste wurde zwischenzeitlich beendet. Viele Ukrainer, geschätzt mindestens 30.000, wurden in staatliche Unterkünfte im Landesinneren verlegt (vgl. Bordermonitoring.eu, Bulgarien – Update Juli 2022 - bordermonitoring.eu/bulgarien/2022/07/update-bulgarien/; spiegel online vom 30.05.2022 – Bulgarien will Flüchtlinge aus Hotels verbannen).

Von ausreichenden freien Aufnahmekapazitäten in Bulgarien, in denen Asylsuchende und Schutzberechtigte zur Vermeidung von Obdachlosigkeit vorübergehend Unterkunft finden könnten (so noch: OVG NRW, Beschluss vom 15.02.2022 – 11 A 1625/21.A -) kann daher vor dem Hintergrund dieser aktuellen Entwicklungen nicht mehr ausgegangen werden. Auch geringfügige Anhaltspunkte für eine wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie sind unter dem Eindruck der wirtschaftlichen Auswirkungen des Ukraine-Krieges und der europaweit grassierenden Inflation obsolet geworden. Gegenwärtig wird von einer weiter steigenden Arbeitslosenquote von 5,4 % und einer Inflationsrate von 11,9 % - 12,5 % ausgegangen (vgl. GTAI, Bulgarien – Wirtschaftsdaten kompakt, Mai 2022 - www.gtai.de/de/trade/wirtschaftsumfeld/wirtschaftsdaten-kompakt/bulgarien/wirtschaftsdaten-kompakt-bulgarien-156708; European Commission, Economic Forecast for Bulgaria, Summer 2022 - economyfinance. ec.europa.eu/economic-surveillance-eu-economies/bulgaria/economic-forecast-bulgaria_en). [...]

Die Möglichkeit einer Existenzsicherung durch eigene Erwerbstätigkeit muss vor diesem Hintergrund daher weiterhin als ausgeschlossen betrachtet werden. [...]