VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 20.01.2023 - 5 K 1321/20.A (Asylmagazin 6/2023, S. 217 ff.) - asyl.net: M31452
https://www.asyl.net/rsdb/m31452
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für exilpolitisch aktive Person aus Myanmar:

1. In Myanmar droht politische Verfolgung, wenn die dortigen Behörden Kenntnis von einem abgelehnten Asylantrag erlangen, insbesondere dann, wenn sich die betroffene Person im Ausland politisch betätigt hat. Auch niedrigschwellige exilpolitische Aktivitäten (Teilnahme an Demonstrationen, Kritik der Militärjunta im Internet) führen zu Repressionen.

2. Jegliche Art von Kritik am Militär, der Militärregierung und dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 sowie Proteste dagegen sind in Myanmar kriminalisiert. Eine unabhängige Justiz besteht nicht. Angeklagte haben kein Recht auf ein faires Verfahren.

3. Sicherheitsbehörden führen nach Belieben Durchsuchungen und Verhaftungen durch, foltern und misshandeln Verdächtige, Gefängnisinsassen und andere Personen. Die Bedingungen in Gefängnissen und Arbeitslagern sind hart und können lebensbedrohlich sein.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Minden, Urteil vom 11.03.2022 - 4 K 3717/19.A - asyl.net: M30519)

Schlagwörter: Myanmar, Exilpolitik, politische Verfolgung, Demonstration, Internet, Folter, NUG, National Unity Government,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 28 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Nach Maßgabe dieser Grundsätze sind im Falle des Klägers die Voraussetzungen für die Gewährung von Flüchtlingsschutz erfüllt. Dabei kann dahinstehen, ob der Kläger sein Heimatland wegen bereits erlittener oder unmittelbar drohender individueller Verfolgung verlassen hat. Zu seinen Gunsten ist jedenfalls ein Nachfluchtgrund gegeben, da ihm im Falle einer Rückkehr nach Myanmar wegen der in Deutschland entfalteten exilpolitischen Aktivitäten mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus politischen Gründen droht.

Allerdings droht dem Kläger nicht bereits allein wegen der Asylantragstellung in Deutschland eine politische Verfolgung. Erkenntnisse, wonach im Ausland gestellte Asylanträge myanmarischer Staatsangehöriger in Myanmar strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen, liegen nicht vor (Auswärtiges Amt, Auskunft an VG Leipzig vom 11. Dezember 2020).

Eine beachtliche Gefahr einer Verfolgung droht dem Kläger auch nicht wegen einer illegalen Ausreise. Staatsangehörige von Myanmar, die das Land ohne gültige Reisepapiere und somit illegal verlassen haben, machen sich nach dem Immigration Emergency Provisions Act von 1947 strafbar. Ihnen droht bei einer Rückkehr nach Myanmar eine mehrjährige Haftstrafe. Illegal ist eine Ausreise aus Myanmar, wenn sie ohne behördliche Genehmigung erfolgt [...].

Der Kläger ist jedoch nicht illegal, sondern mit einem ihm von der Deutschen Botschaft am 24. Mai 2018 erteilten Visum und einem gültigen Reisepass auf dem Luftweg ausgereist.

Dem Kläger droht jedoch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit wegen seiner exilpolitischen Tätigkeit bei einer Rückkehr nach Myanmar politische Verfolgung. Er hat durch Vorlage von Fotos und seine Ausführungen in der mündlichen Verhandlung seine Teilnahme an Demonstrationen und Veranstaltungen glaubhaft gemacht, die sich gegen das Militärregime in seinem Heimatland richten und dessen Sturz fordern. In der mündlichen Verhandlung hat er ein - nach seinen Angaben vom myanmarischen Nachrichtendienst erstelltes und allgemein einsehbares - bei Facebook eingestelltes Video über eine Demonstration vor der myanmarischen Botschaft in Berlin im Februar 2021 vorgespielt, auf welchem er als Teilnehmer zu erkennen war.

Ferner hat er auf Facebook getätigt seinen unter seinem echten Namen geführten und öffentlich zugänglichen Account regimekritische Meinungsäußerungen und eigene Beiträge eingestellt sowie dort Beiträge geteilt, die über die Taten des Militärs in Myanmar berichten.

Der Kläger hat öffentlich zugängliche Veranstaltungen der myanmarischen Exilregierungsorganisation National Unity Government of the Republic of the Union of Myanmar (NUG) besucht, die ausweislich ihres Internetauftritts (https://gov.nugmyanmar.org) zu einem Kampf zum Sturz der Militärdiktatur aufruft, und sie durch Spenden unterstützt. [...]

Die NUG wurde am 16. April 2021 von Abgeordneten der gestürzten Regierung, führenden Köpfen der Protestbewegung und Vertretern ethnischer Minderheiten ausgerufen und wird von der Militärjunta als terroristische Organisation eingestuft [...].

Darüber hinaus hat der Kläger im Februar 2021 an einer Demonstration gegen das Militärregime vor der myanmarischen Botschaft in Berlin teilgenommen. In der mündlichen Verhandlung hat er hierzu ein bei Facebook eingestelltes Video abgespielt. Durch sein gesamtes Engagement hat der Kläger öffentlich deutlich gemacht, dass er das Militär und den Militärputsch kritisiert und dessen Absetzung fordert.

Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen ist davon auszugehen, dass staatliche myanmarische Stellen an der Identifizierung von Teilnehmern an Demonstrationen gegen die Militärjunta ein Interesse haben [...].

Die Kammer hat keinen Anlass zu der Annahme, dass ein entsprechendes Interesse staatlicher Stellen nicht gleichermaßen in Bezug auf die Identifizierung der Verfasser regimekritischer Äußerungen über das Internet besteht. Sie schließt sich der Auffassung an, wonach das derzeitige myanmarische Regime nicht zu einer relativierenden Bewertung exilpolitischer Tätigkeiten willens und in der Lage ist und es beachtlich wahrscheinlich ist, dass auch niederschwellige exilpolitische Tätigkeiten zu staatlichen Repressionen führen [...].

Das Wesen des myanmarischen Staates ist von einem hohen Grad an Willkür geprägt. Für Rückkehrer besteht Anlass zu begründeter Angst vor Verfolgung, wenn die myanmarischen Behörden Kenntnis über einen abgelehnten Asylantrag erlangen, insbesondere dann, wenn sie sich im Ausland politisch betätigt haben. Jegliche Art von Kritik am Militär, der Militärregierung und dem Militärputsch vom 1. Februar 2021 sowie Proteste dagegen sind durch am 14. Februar 2021 in Kraft getretene Strafgesetzänderungen kriminalisiert (BAMF, Länderreport Myanmar 08/2022, S. 3 f.).

Eine unabhängige Justiz besteht nicht. Die Polizei und das Büro des Leiters für Militärische Sicherheitsangelegenheiten führen nach Belieben Durchsuchungen und Verhaftungen durch. Angeklagte unterliegen nicht der Unschuldsvermutung, sie haben kein Recht, zeitnah und ausführlich über die gegen sie erhobenen Vorwürfe informiert zu werden und kein Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ohne unangemessene Verzögerung (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Myanmar vom 2. April 2021, S. 23 f.).

In den Gefängnissen und Arbeitslagern stellt die Überbelegung ein Problem dar. Aufgrund unzureichenden Zugangs zu hochwertiger medizinischer Versorgung und Grundbedürfnissen wie Nahrung, Unterkunft und Hygiene sind die Bedingungen in den Gefängnissen und Arbeitslagern hart und manchmal lebensbedrohlich. [...]

Sicherheitskräfte foltern und misshandeln Verdächtige, Gefängnisinsassen und andere Personen. Dazu zählen auch harte Verhörmethoden, die darauf abzielen, Gefangene einzuschüchtern und zu desorientieren, einschließlich schwerer Schläge und Entzug von Nahrung, Wasser, Schlaf und Sauerstoff. [...]

Die Gesamtschau der dargestellten Situation in Myanmar einerseits und der exilpolitischen Aktivitäten des Klägers in Deutschland andererseits ergibt nach Auffassung der Kammer in der Person des Klägers eine beachtliche Wahrscheinlichkeit der Gefahr einer politischen Verfolgung bei Rückkehr in das Heimatland. [...]