VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 16.12.2022 - 10 K 2871/18.A - asyl.net: M31464
https://www.asyl.net/rsdb/m31464
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft wegen Teilnahme an regimekritischen Demonstrationen im Iran:

Angesichts der aktuellen Sicherheitslage ist davon auszugehen, dass es für die Annahme einer Verfolgungsgefahr bereits ausreicht, wenn jemand als Teilnehmer*in einer regimefeindlichen und zudem von gewaltsamen Auseinandersetzungen begleiteten Demonstration von den Sicherheitskräften sicher identifiziert wird. Identifiziert das iranische Regime eine Person als Teilnehmer*in regimefeindlicher Veranstaltungen, wird es sie als Regimegegner*in ansehen und mit aller Härte verfolgen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, politische Verfolgung, Demonstration,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]

2. Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe droht dem Kläger zur Überzeugung des Gerichts (vgl. § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) aufgrund seiner politischen Aktivitäten für den Fall einer Rückkehr nach Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit flüchtlingsrelevante Verfolgung.

a. Nach den Erkenntnissen des Gerichts sind generell die Teile der iranischen Bevölkerung, die öffentlich Kritik an Missständen üben oder sich für Menschenrechtsthemen engagieren, der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung ausgesetzt. Besonders schwerwiegend und verbreitet sind staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder islamische Grundsätze infrage stellt. [...]

b. Dies zugrunde gelegt sind zur Überzeugung der Kammer (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) die politischen Aktivitäten des Klägers in Iran dem iranischen Regime bekannt geworden, weswegen der Kläger nach der Erkenntnislage im Fall einer Rückkehr nach Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit als Regimegegner gefährdet ist.

aa. Dem Kläger kann zunächst geglaubt werden, dass (auch) in A. Ende Dezember 2017/Anfang Januar 2018 Demonstrationen und Protestveranstaltungen stattgefunden haben und es (auch damals) in diesem Zusammenhang - landesweit - zu Polizeieinsätzen und zu Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei gekommen ist, teilweise auch mit Verletzten und Toten. Dies entspricht ebenso der Erkenntnislage wie der Umstand, dass während dieser Auseinandersetzungen sowie in der Folgezeit Teilnehmer der Demonstrationen verhaftet worden sind [...].

Nach der Erkenntnislage ist allerdings davon auszugehen, dass sich nach dem Ende der Proteste die Suche in aller Regel beschränkt haben wird auf die Anführer, vermeintlichen Rädelsführer, "Unruhestifter, die bei den Demonstrationen Waffen eingesetzt, öffentliches Eigentum zerstört und die Sicherheit des Landes gefährdet" haben sollen und im Übrigen offenbar auch auf Menschen, die Informationen über die Demonstrationen über den Messenger-Dienst Telegram verbreitet haben, mithin auf Menschen, die der iranische Staat als Regimekritiker und damit als Feinde der Republik ansieht [...].

Zu diesem Personenkreis gehörte der Kläger nicht. Er trägt selbst nicht vor, bei den Demonstrationen eine führende Rolle eingenommen oder in sonstiger Weise herausgehoben agiert zu haben. Er hat sich von den Massen der in diesen Tagen in ganz Iran Protestierenden vielmehr nicht abgehoben. Gleichwohl ist gerade unter Berücksichtigung der aktuellen Eskalation der Sicherheitslage zur Überzeugung der Kammer davon auszugehen, dass es für die Annahme einer Verfolgungsgefahr bereits ausreicht, wenn jemand als Teilnehmer einer regimefeindlichen und zudem von gewaltsamen Auseinandersetzungen begleiteten Demonstration von den Sicherheitskräften sicher identifiziert wird. Das gilt für die Proteste zur Jahreswende 2017/2018 ebenso wie für die aktuellen Proteste. Identifiziert das iranische Regime einen Teilnehmer an regimefeindlichen Veranstaltungen, wird es ihn als Regimegegner ansehen und mit aller Härte verfolgen. [...]