VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 12.01.2023 - 5 K 2768/22.A (Asylmagazin 7-8/2023, S. 266 ff.) - asyl.net: M31467
https://www.asyl.net/rsdb/m31467
Leitsatz:

Aufhebung eines Dublin-Bescheids wegen systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Ungarn:

1. Die neuen asylrechtlichen Regelungen in Ungarn und ihre praktische Anwendung führen dazu, dass Schutzsuchenden mit überwiegender Wahrscheinlichkeit kein Zugang zum ungarischen Asylverfahren haben. Auch im Falle einer Dublin-Rücküberstellung sind der Zugang zum Asylverfahren sowie ein faires bzw. richtlinienkonformes Asylverfahren nicht gewährleistet und bestehen insofern systemische Mängel gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO.

2. Das neue Asylsystem dürfte auch die vom EuGH bereits gerügte Praxis der automatischen und rechtswidrigen Inhaftierung von Schutzsuchenden fortsetzen, sodass auch insofern systemische Mängel bestehen.

3. Zumindest besonders schutzbedürftigen Asylsuchenden (hier: Familie mit Kind) droht ferner aufgrund systemischer Mängel der Aufnahmebedingungen eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GR-Charta/Art. 3 EMRK und mithin eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, weil sie nicht in der Lage sein werden, ein menschenwürdiges Existenzminimum zu erwirtschaften.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG Trier, Urteil vom 28.09.2022 - 7 K 1706/22.TR - asyl.net: M31116)

Schlagwörter: Ungarn, Dublinverfahren, Refoulement, Non-Refoulement, Asylantragstellung, unerlaubte Einreise, Einreise, Botschaftsverfahren, Serbien, Ukraine, Haft, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, systemische Mängel, Existenzgrundlage, Diskriminierung, Obdachlosigkeit,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3, GFK Art. 33, GR-Charta Art. 6, EMRK Art. 5
Auszüge:

[...]

Nach diesen Maßstäben ist die von der Beklagten nach der Dublin III-VO vorgenommene Bestimmung von Ungarn als zuständiger Mitgliedstaat rechtswidrig, weil es sich gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabsatz 2 Dublin III-VO im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung der Kammer als unmöglich erweist, die Kläger nach Ungarn zu überstellen. Nach Auswertung der aktuellen Erkenntnislage ist die Kammer der Überzeugung, dass den Klägern infolge der angeordneten Abschiebung nach Ungarn dort aufgrund systemischer Mängel des Asylverfahrens (a) und der Aufnahmebedingungen (b) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. [...]

Nach den vorliegenden Erkenntnissen führen sowohl die asylrechtlichen Regelungen als auch ihre Anwendung in der Praxis dazu, dass Schutzsuchenden mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit kein Zugang zum ungarischen Asylverfahren gewährt wird [...].

Die Kläger haben bislang in Ungarn keinen Asylantrag gestellt. Nach der aktuellen ungarischen Gesetzeslage und den vorliegenden Erkenntnissen wird es ihnen im Rahmen der beabsichtigten Rückführung nach der Dublin III-VO nicht möglich sein, in Ungarn einen Asylerstantrag zu stellen. Es droht vielmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit entgegen dem in Art. 33 Abs. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention (GK) und Art. 3 EMRK verankerten Grundsatz der Nichtzurückweisung (Refoulement-Verbot) eine Abschiebung ins Herkunftsland ohne vorherige Entscheidung über den Asylantrag. [....]

Nachdem der EuGH die Unterbringung von Asylsuchenden in Transitzonen an der ungarischen Grenze für rechtswidrig erklärt hatte, erließ die ungarische Regierung einen Erlass, mit dem sie ein neues Asylsystem einführte (Government Decree 233/2020), das sogenannte "Botschaftsverfahren", ohne allerdings die vom EuGH als unionsrechtswidrig gerügten Vorschriften aufzuheben. [...]

Nach dem neuen System müssen Personen, die in Ungarn Asyl beantragen wollen, mit Ausnahme einiger weniger Fallgruppen (siehe dazu unten) folgende Schritte durchlaufen, bevor sie ihren Asylantrag registrieren lassen können:

- Persönliche Einreichung eines "DoI" bei der ungarischen Botschaft in Belgrad oder in Kiew.

- Das "DoI" muss an die Asylbehörde, die NDGAP (National Directorate-General for Aliens Policing), weitergeleitet werden, die es innerhalb von 60 Tagen prüft.

- Die NDGAP schlägt der Botschaft vor, eine spezielle, einmalige Einreiseerlaubnis für die Einreise nach Ungarn zum Zwecke der Stellung eines Asylantrags zu erteilen.

- Wird die Erlaubnis erteilt, muss die Person allein nach Ungarn reisen und sich nach ihrer Ankunft sofort bei den Grenzbeamten melden.

- Die Grenzbeamten müssen die Person dann der NDGAP vorstellen.

- Die Person kann dann ihren Asylantrag bei der NDGAP formell registrieren lassen und damit das offizielle Asylverfahren einleiten.

Je nach Genehmigung des "DoI" erhält der potenzielle Asylbewerber eine spezielle Reiseerlaubnis ausgestellt, die es ihm ermöglicht, nach Ungarn zu reisen und einen Asylantrag zu stellen.

Nur Personen, die zu den folgenden Kategorien gehören, müssen das oben beschriebene Verfahren nicht durchlaufen:

- Personen, denen subsidiärer Schutz gewährt wird und die sich in Ungarn aufhalten.

- Familienangehörige von Flüchtlingen und Personen mit subsidiärem Schutzstatus, die sich in Ungarn aufhalten.

- Personen, die Zwangsmaßnahmen, Maßnahmen oder Strafen unterworfen sind, die die persönliche Freiheit beeinträchtigen, außer wenn sie Ungarn auf "illegale" Weise durchquert haben.

Folglich kann kein Schutzsuchender, der an der ungarischen Grenze ankommt oder illegal nach Ungarn einreist oder sich legal in Ungarn aufhält und nicht zu den drei oben genannten Kategorien gehört, in Ungarn Asyl beantragen [...].

Die Kriterien, nach denen eine Einreiseerlaubnis zum Zwecke der Asylantragstellung von der NDGAP zu erteilen ist, werden nicht benannt [...].

Das Ungarische Helsinki Komitee berichtet, dass Personen regelmäßig abgewiesen und darüber informiert würden, dass sie auf eine nicht näher definierte "Warteliste" gesetzt seien, um einen Termin zur Abgabe der Absichtserklärung zu erhalten. Einige warteten über 2 Monaten auf diesen Termin. Einige verpassten auch den Termin, da sie kein Englisch sprechen und die Informationen über den Termin per E-Mail auf Englisch verschickt würden, oder weil sie es nicht gewohnt seien, mit E-Mails umzugehen, oder weil sie nicht in der Lage gewesen seien, die Reise zum Termin zu organisieren, da sie in einem Aufnahmezentrum weiter weg von Belgrad untergebracht worden seien. Das Formular "Absichtserklärung" ("DoI") müsse in Englisch oder Ungarisch ausgefüllt werden, ohne dass ein Dolmetscher oder Rechtsbeistand zur Verfügung stehe. Die Entscheidung der NDGAP erfolge ohne Begründung und das Gesetz sehe keinen Rechtsbehelf vor [...].

Nach den Erkenntnissen des Menschenrechtskommissars des Europarates kann allein der Termin für die Einreichung des Formulars ("DoI") mit einer Wartezeit von über sechs Monaten verbunden sein [...].

Antragsteller haben in der Phase des "Botschaftsverfahrens" keinen Anspruch auf Einhaltung der in der RL 2013/33/EU (Aufnahmerichtlinie) geregelten (Mindest)Bedingungen für die Aufnahme von Asylsuchenden und sie genießen keinen Schutz; das bedeutet, sie können von den serbischen oder ukrainischen Behörden inhaftiert, ausgewiesen oder abgeschoben werden [...].

Die Kläger fallen als Dublin-Rückkehrer offensichtlich nicht unter die oben genannten Ausnahmegruppen, die in Ungarn ohne vorheriges "Botschaftsverfahren" einen Asylantrag stellen können.[...] Wenn eine Person, die noch keinen Asylantrag in Ungarn gestellt hat, nach der Dublin-Verordnung zurückgeschickt wird, muss er/sie nach der Rückkehr einen Asylantrag stellen, aber die derzeit geltenden Rechtsvorschriften lassen diese Möglichkeit nicht zu. "Dublin-Rückkehrer" zählen nicht zu den Ausnahmen, die im ungarischen Hoheitsgebiet einen Asylantrag stellen dürfen.

Soweit das Bundesamt unter Bezugnahme auf den Beschluss des VG Halle (vgl. Beschluss vom 19. April 2021 - 4 B 254/21 HAL -, juris) die Auffassung vertritt, der erschwerte Zugang zum Asylverfahren habe keine Auswirkungen auf das Dublin-Verfahren mit Ungarn, ist dies durch die vorliegenden Erkenntnisse widerlegt. [...]

Auch das von der ungarischen Dublin Coordination Unit auf das Aufnahmegesuch des Bundesamts unter dem 30. September 2022 erklärte Einverständnis zur Überstellung der Kläger führt zu keinem anderen Ergebnis. Denn die ungarischen Behörden haben bezugnehmend auf Art. 12 Abs. 2 Dublin III-VO nur das Einverständnis für die Überstellung der Kläger zur Feststellung des Asylgesuchs ("for determination of the asylum application") bzw. die Verantwortung für die Übernahme der Kläger ("accepts responsibility for taking charge of the applicants") erklärt. Eine belastbare Zusicherung, dass die Kläger den Asylantrag in Ungarn stellen können und dieser unter Einhaltung der einschlägigen europarechtlichen Regelungen während des Aufenthalts der Kläger in Ungarn geprüft wird, beinhaltet diese Erklärung nicht. [...]

Angesichts der o.g. Erkenntnisse sowie des Umstandes, dass die ungarische Asylpolitik seit Jahren durch die systematische Verletzung internationaler und europäischer Rechtsstandards gekennzeichnet ist [...] und mit Blick auf die jüngste Eingabe des Menschenrechtskommissars des Europarates vom 12. August 2022 an das Ministerkomitee zur willkürlichen Abschiebung von Asylsuchenden nach Serbien, in der dieser zusammenfassend feststellt, dass aufgrund der von der ungarischen Regierung seit 2015 eingeführten Regelungen und Maßnahmen der Zugang zum Asylverfahren und zu einer inhaltlichen und individuellen Risikobewertung praktisch unmöglich geworden sei [...], steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass auch im Falle einer Dublin-Rücküberstellung der Zugang zum Asylverfahren sowie ein faires bzw. richtlinienkonformes Asylverfahren nicht gewährleistet sind. [...]

Unabhängig von dem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit durch das ungarische Asylrecht ausgeschlossenen Zugang zum Verfahren zur Prüfung eines Antrages auf internationalen Schutz dürfte das neue Asylsystem auch die vom EuGH bereits hinsichtlich der Transitzonen gerügte Praxis der automatischen und rechtswidrigen Inhaftierung von Schutzsuchenden fortsetzen (vgl. insoweit EuGH, Urteil vom 14. Mai 2020 - C-924/19 PPU, C-925/19 PPU -, juris Rn 267ff.), denn es sieht vor, dass die Asylbehörde nach der Registrierung des Asylantrags (nach der Ankunft des Asylbewerbers in Ungarn, nachdem ihm aufgrund seiner "Absichtserklärung" ein spezielles einmaliges Einreisedokument erteilt wurde) eine Entscheidung über die Unterbringung des Antragstellers "in einer geschlossenen Einrichtung" trifft. [...]

Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass im Rahmen des Dublin-Verfahrens überstellte Antragsteller nicht "in einer geschlossenen Einrichtung" untergebracht werden bzw. dass eine Möglichkeit besteht, die Rechtmäßigkeit der Gewahrsamsanordnung in einem effektiven gerichtlichen Verfahren zu prüfen [...].

(b) Schließlich steht nach Auswertung der aktuellen Erkenntnislage zur Überzeugung der Kammer fest, dass den Klägern in Ungarn darüber hinaus aufgrund systemischer Mängel der Aufnahmebedingungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohen würde. [...]

Für die anerkannt Schutzberechtigten hat die Kammer bereits entschieden, dass jedenfalls für die Situation der Gruppe der nicht uneingeschränkt arbeitsfähigen, ggf. vulnerablen Personen unter Berücksichtigung der Erkenntnislage und ihres regelmäßig besonderen Bedarfs in aller Regel nicht davon auszugehen ist, dass sie die für die Schaffung adäquater, menschenwürdiger Lebensverhältnisse in Ungarn erforderliche besondere Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit aufbringen und ihren Lebensunterhalt zumindest auf niedrigem Niveau für den zugrunde zulegenden zeitlich erweiterten Prognosespielraum durch Arbeit sicherstellen können werden [...].

Vorliegend gehört zur Kernfamilie, die auch hier in familiärer Lebensgemeinschaft lebt, jedenfalls eine vulnerable Person und zwar der vierjährige Sohn der Kläger zu 1. und 2. [...]

Nach der Erkenntnislage steht fest, dass die Suche nach einer geeigneten menschenwürdigen Unterkunft für eine dreiköpfige Familie in Ungarn - nach zu unterstellender Gewährung von internationalem Schutz - ohne staatliche Hilfe und ohne Einkommen überaus schwierig bis aussichtslos sein wird. Es fehlt an der notwendigen Sicherstellung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage auf dem durch Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC geforderten Niveau, da weder staatliche Unterbringungs- oder Unterstützungsleistungen noch hinreichend gesicherte Leistungen privater Organisationen für anerkannt Schutzberechtigte zur Verfügung stehen. Die Familie wäre also völlig auf sich selbst gestellt. [...]

Selbst wenn es gelingen sollte, die Familie für eine gewisse Übergangszeit vorübergehend unterzubringen und zu versorgen und dies mit Blick auf den vierjährigen Kläger zu 3. für ausreichend und zumutbar erachtet würde - was nicht der Fall sein dürfte -, ist es zur Überzeugung der Kammer (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) nicht beachtlich wahrscheinlich, dass es den Klägern zu 1. und zu 2. gelingen wird, für den in den Blick zu nehmenden erweiterten Prognosespielraum (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - C-163/17 - Jawo, juris Rn. 87ff; ebenso VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 29. Juli 2019 - A 4 S 749/19 -, juris Rn. 40; VG Dresden, Beschluss vom 7. September 2021 - 12 L 893/20.A - juris, Bl. 8f.) den Lebensunterhalt der dreiköpfigen Familie zumindest auf einem Niveau sicher zu stellen, das eine existenzielle Notlage ausschließen wird. [...]

Die Klägerin zu 2. wird insbesondere aufgrund ihrer Sprachschwierigkeiten, ihrer muslimischen Religionszugehörigkeit und ihrer eingeschränkten Einsatzfähigkeit als Mutter eines Kleinkindes, nicht auf dem Arbeitsmarkt bestehen können, zumindest nicht in den Bereichen, die anerkannt Schutzberechtigten in erster Linie offenstehen (Baugewerbe, Gastronomie und Tourismus) [...].

Auch der Kläger zu 1. wird allenfalls im untersten Lohnsektor etwa im Baugewerbe eine Arbeit finden können, die es ihm sicher nicht ermöglichen wird, den erhöhten Mindestunterhalt der Familie zu decken.

Darüber hinaus wird den Klägern zu 1. und zu 2. die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit wegen der erforderlichen Betreuung des vierjährigen Klägers zu 3., für die im ungarischen Bildungssystem - wenn überhaupt - nur sehr eingeschränkte Kapazitäten zur Verfügung stehen, nur in beschränktem zeitlichem Umfang möglich sein. [...]