VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 23.02.2023 - 15a K 1766/22.A - asyl.net: M31481
https://www.asyl.net/rsdb/m31481
Leitsatz:

Aussetzung des Verfahrens wegen Vorlage an den EuGH hinsichtlich der Bindungswirkung internationalen Schutzes in EU-Staaten:

Die Vorlage des BVerwG zur Frage, ob - wenn eine Ablehnung als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG wegen der Zuerkennung internationalen Schutzes in einem EU-Staat aufgrund einer drohenden Verletzung der Rechte aus Art. 4 GR-Charta nicht möglich ist - eine Bindungswirkung der Zuerkennungsentscheidung im anderen EU-Staat besteht, ist von entscheidungserheblicher Bedeutung, sodass das Verfahren bis zur Klärung dieser Frage auszusetzen ist. 

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerwG, Beschluss vom 07.09.2022 - 1 C 26.21 - asyl.net: M30943)

Schlagwörter: ausländische Anerkennung, internationaler Schutz in EU-Staat, Bindungswirkung, internationaler Schutz, GEAS, AufenthG § 60 Abs. 1 S. 2,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, RL 2013 Art. 33 Abs. 2 Bst. a, GR-Charta Art. 4,
Auszüge:

[...]

Das Verfahren war analog § 94 VwGO auszusetzen. Einer unmittelbaren Anwendung der Vorschrift steht entgegen, dass das Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof die Klärung einer abstrakten Rechtsfrage und nicht ein vorgreifliches Rechtsverhältnis betrifft. Ist jedoch die zur Klärung durch den Europäischen Gerichtshof anstehende Frage des Gemeinschaftsrechts in einem anderen nationalen Verfahren gleichfalls von entscheidungserheblicher Bedeutung, kann das Verfahren in entsprechender Anwendung von § 94 VwGO ohne Vorlage des Rechtsstreits an den Europäischen Gerichtshof ausgesetzt werden. [...]

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch Beschluss vom 7. September 2022 - 1 C 26.21 - dem Europäischen Gerichtshof die Frage vorgelegt:

"Sind in einem Fall, in dem ein Mitgliedstaat von der durch Art. 33 Abs. 2 Buchst. a RL 2013/32/EU eingeräumten Befugnis, einen Antrag auf internationalen Schutz im Hinblick auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig abzulehnen, keinen Gebrauch machen darf, weil die Lebensverhältnisse in diesem Mitgliedstaat den Antragsteller der ernsthaften Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRC aussetzen würden, Art. 3 Abs. 1 Satz 2 VO (EU) 604/2013, Art. 4 Abs. 1 Satz 2 und Art. 13 RL 2011/95/EU sowie Art. 10 Abs. 2 und 3, Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a RL 2013/32/EU dahin auszulegen, dass die bereits erfolgte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft den Mitgliedstaat daran hindert, den bei ihm gestellten Antrag auf internationalen Schutz ergebnisoffen zu prüfen, und ihn dazu verpflichtet, ohne Untersuchung der materiellen Voraussetzungen dieses Schutzes dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen?"

Die in dem Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof im Verfahren C-753/22 zur Klärung anstehenden Fragen erscheinen auch für das vorliegende Verfahren von entscheidungserheblicher Bedeutung. Bestünde die in der Vorlagefrage benannte Bindungswirkung, erwiese sich der angefochtene Ablehnungsbescheid aller Voraussicht nach teilweise als rechtswidrig und stünden dem Kläger teilweise die behaupteten Ansprüche zu. [...]

Die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage drängt sich letztlich aufgrund des in ihr erwähnten Art. 33 Abs. 1 und 2 Buchst. a RL 2013/32/EU, die den internationalen Schutz (vgl. Art. 2 Buchst. i RL 2013/32/EU) betreffen, normativ geradezu auf.

Die von der Beklagten aufgezeigte Beschränkung des Abschiebungsschutzes in § 60 Abs. 1 Satz 2 AufenthG bei anerkannter Asylberechtigung oder zuerkannter Flüchtlingseigenschaft ist für den unionsrechtlichen Maßstab der in der Vorlagefrage erwähnten Regelungen wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts (vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2021 - C-357/19, C-379/19, C-547/19, C-811/19 und C-840/19 - ECLI:EU:C:2021:1034, curia.eu Rn. 244 ff.) ohne rechtliche Bedeutung. [...]