EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 18.04.2023 - C-1/23 PPU X., Y., A. und B. gegen Belgien - asyl.net: M31499
https://www.asyl.net/rsdb/m31499
Leitsatz:

Zum Zeitpunkt des persönlichen Erscheinens im Familiennachzugsverfahren:

1. Nationale Regelungen, die ein persönliches Erscheinen der antragstellenden Personen im Familiennachzugsverfahren in der zuständigen Auslandsvertretung zwingend vorsehen, ohne dass davon Ausnahmen möglich wären, sind unionsrechtswidrig. Um das Ziel der Richtlinie 2003/86/EG zu erreichen, müssen zumindest dann, wenn es nicht möglich oder übermäßig schwierig ist, die Auslandsvertretung zu erreichen, Ausnahmen zugelassen sein.

2. Es bleibt dem Mitgliedstaat jedoch unbenommen, das persönliche Erscheinen in einem späteren Verfahrensstadium zu verlangen. Allerdings muss der Mitgliedstaat das Erscheinen erleichtern, insbesondere durch die Ausstellung konsularischer Dokumente oder freie Grenzübertritte, und die Häufigkeit des persönlichen Erscheinens auf das absolut Notwendige reduzieren.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, anerkannter Flüchtling, persönliches Erscheinen, Visumsverfahren, Auslandsvertretung,
Normen: RL 2003/86/EG Art. 5 Abs. 1, GR-Charta Art. 7, GR-Charta Art. 24
Auszüge:

[...]

39 Gemäß Art. 5 Abs. 1 dieser Richtlinie legen die Mitgliedstaaten fest, ob zur Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung ein Antrag auf Einreise und Aufenthalt entweder vom Zusammenführenden oder von den Familienangehörigen bei den zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats gestellt werden muss.

40 Daraus folgt, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, zum einen die Person zu bestimmen, die berechtigt ist, einen Antrag auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung zu stellen, und zum anderen die Behörden, die für die Registrierung eines solchen Antrags zuständig sind.

41 Erstens ist jedoch darauf hinzuweisen, dass Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 den Mitgliedstaaten insoweit zwar einen Wertungsspielraum einräumt, dass dieser Spielraum von den Mitgliedstaaten aber nicht in einer Weise genutzt werden darf, die dem Ziel dieser Richtlinie und ihrer praktischen Wirksamkeit abträglich wäre (siehe entsprechend Urteile vom 13. März 2019, E., C-635/17, EU:C:2019:192, Rn. 53, sowie vom 12. Dezember 2019, G.S. und V.G. [Bedrohung der öffentlichen Ordnung], C-381/18 und C-382/18, EU:C:2019:1072, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

42 In Bezug auf das mit der Richtlinie 2003/86 verfolgte Ziel hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, dass diese Richtlinie die Familienzusammenführung begünstigen und Drittstaatsangehörigen, namentlich Minderjährigen, Schutz gewähren soll. Zur Erreichung dieses Ziels gibt Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie den Mitgliedstaaten präzise positive Verpflichtungen auf, denen klar definierte subjektive Rechte entsprechen. So schreibt er ihnen vor, den Nachzug bestimmter Familienangehöriger des Zusammenführenden zu genehmigen, ohne dass sie dabei von ihrem Wertungsspielraum Gebrauch machen könnten, sofern die Bedingungen des Kapitels IV der Richtlinie erfüllt sind (Urteil vom 12. Dezember 2019, G.S. und V.G. [Bedrohung der öffentlichen Ordnung], C-381/18 und C-382/18, EU:C:2019:1072, Rn. 60 und 61sowie die dort angeführte Rechtsprechung). [...]

48 Nach alledem ist zu prüfen, ob Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 im Licht von Art. 7 und Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta es einem Mitgliedstaat verwehrt, das persönliche Erscheinen der Familienangehörigen des Zusammenführenden bei der zuständigen diplomatischen oder konsularischen Vertretung dieses Mitgliedstaats zum Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung auch dann zu verlangen, wenn ein solches Erscheinen aufgrund ihrer konkreten Lage unmöglich oder übermäßig schwierig ist. [...]

50 Wie das vorlegende Gericht betont, sieht das belgische Recht keine Ausnahmen von dieser Anforderung des persönlichen Erscheinens bei der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung für Situationen vor, in denen ein solches Erscheinen unmöglich oder übermäßig schwierig ist, namentlich wenn die Familienangehörigen des Zusammenführenden in einem Konfliktgebiet leben und bei einem Ortswechsel Gefahr laufen, sich einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung auszusetzen oder sogar ihr Leben zu gefährden.

51 Zur Erreichung des in Rn. 42 des vorliegenden Urteils genannten Ziels der Richtlinie 2003/86, die Familienzusammenführung zu begünstigen, ist es unerlässlich, dass die Mitgliedstaaten in solchen Situationen die erforderliche Flexibilität beweisen, um den Betroffenen zu ermöglichen, ihren Antrag auf Familienzusammenführung tatsächlich rechtzeitig zu stellen, und deswegen die Antragstellung erleichtern und insbesondere den Rückgriff auf Fernkommunikationsmittel zulassen.

52 Denn ohne eine solche Flexibilität erlaubt es die ausnahmslose Anforderung des persönlichen Erscheinens bei der Antragstellung, wie in der im Ausgangsverfahrens in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehen, nicht, etwaige Hindernisse zu berücksichtigen, die die wirksame Stellung eines solchen Antrags verhindern und damit die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung unmöglich machen könnten, wodurch die Trennung des Zusammenführenden von seinen Familienangehörigen und die oftmals prekäre Lage Letzterer verfestigt werden. Insbesondere wenn diese sich in einem Land befinden, das von einem bewaffneten Konflikt geprägt ist, können die Möglichkeiten, sich zu den zuständigen diplomatischen oder konsularischen Vertretungen zu begeben, erheblich eingeschränkt sein, so dass sich, um der Anforderung des persönlichen Erscheinens nachzukommen, diese Personen, bei denen es sich zudem um Minderjährige handeln kann, gezwungen sähen abzuwarten, bis die Sicherheitslage es ihnen erlaubt, den Ort zu wechseln, es sei denn, sie setzen sich einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung aus oder gefährden gar ihr Leben. [...]

54 In Anbetracht dieser Erwägungen ist festzustellen, dass die Anforderung des persönlichen Erscheinens bei der Stellung eines Antrags auf Zusammenführung, ohne dass Ausnahmen von dieser Anforderung zugelassen würden, um der konkreten Lage, in der sich die Familienangehörigen des Zusammenführenden befinden, und namentlich der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es für sie unmöglich oder übermäßig schwierig ist, der genannten Anforderung nachzukommen, dazu führt, dass die Ausübung des Rechts auf Familienzusammenführung praktisch unmöglich gemacht wird, so dass eine solche Regelung, angewandt ohne die erforderliche Flexibilität, das mit der Richtlinie 2003/86 verfolgte Ziel beeinträchtigt und dieser ihre praktische Wirksamkeit nimmt. [...]

56 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass eine nationale Vorschrift, die ausnahmslos das persönliche Erscheinen der Familienangehörigen des Zusammenführenden für die Stellung eines Antrags auf Familienzusammenführung selbst dann verlangt, wenn dieses Erscheinen unmöglich oder übermäßig schwierig ist, gegen das in Art. 7 der Charta, gegebenenfalls in Verbindung mit deren Art. 24 Abs. 2 und 3, niedergelegte Recht auf Achtung der Einheit der Familie verstößt. [...]

58 Die Erwägungen in den Rn. 56 und 57 des vorliegenden Urteils werden durch den Umstand gestützt, dass, wie aus der Systematik von Art. 5 der Richtlinie 2003/86 hervorgeht, das Verfahren zur Beantragung der Familienzusammenführung in mehreren Phasen abläuft. So können die Mitgliedstaaten das persönliche Erscheinen der Familienangehörigen des Zusammenführenden in einem späteren Stadium dieses Verfahrens verlangen, um insbesondere die familiären Bindungen und die Identität der Betroffenen zu überprüfen, ohne dass es für die Bearbeitung des Antrags auf Familienzusammenführung erforderlich wäre, ein solches Erscheinen bereits bei der Antragstellung vorzuschreiben.

59 Damit jedoch das mit der Richtlinie 2003/86 verfolgte Ziel der Begünstigung der Familienzusammenführung und die Grundrechte, die diese Richtlinie schützen soll, nicht beeinträchtigt werden, muss der Mitgliedstaat, wenn er das persönliche Erscheinen der Familienangehörigen des Zusammenführenden in einem späteren Verfahrensabschnitt verlangt, ein solches Erscheinen erleichtern, insbesondere durch die Ausstellung konsularischer Dokumente oder freie Grenzübertritte, und die Häufigkeit persönlichen Erscheinens auf das absolut Notwendige reduzieren. So muss er die Möglichkeit vorsehen, die Überprüfung der familiären Bindungen und der Identität, die die Anwesenheit dieser Familienangehörigen erfordern, zum Verfahrensende und möglichst gleichzeitig mit der etwaigen Ausstellung der Dokumente durchzuführen, die zur Einreise in das Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats berechtigen.

60 Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2003/86 in Verbindung mit Art. 7 sowie Art. 24 Abs. 2 und 3 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, nach der für die Stellung eines Antrags auf Einreise und Aufenthalt zum Zweck der Familienzusammenführung die Familienangehörigen des Zusammenführenden, namentlich eines anerkannten Flüchtlings, die für den Ort ihres Wohnsitzes oder ihres Aufenthalts im Ausland zuständige diplomatische oder konsularische Vertretung eines Mitgliedstaats auch dann persönlich aufsuchen müssen, wenn es für sie unmöglich oder übermäßig schwierig ist, sich zu dieser Vertretung zu begeben, wobei es diesem Mitgliedstaat unbenommen bleibt, das persönliche Erscheinen dieser Angehörigen in einem späteren Stadium des Verfahrens zur Beantragung der Familienzusammenführung zu verlangen. [...]