LSG Niedersachsen-Bremen

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Zitieren als:
LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 03.11.2022 - L 8 AY 55/21 - asyl.net: M31592
https://www.asyl.net/rsdb/m31592
Leitsatz:

Zur rechtsmissbräuchlichen Beeinflussung der Aufenthaltsdauer im AsylbLG:

1. Durch einen allein passiven Widerstand gegen eine Abschiebungsmaßnahme (hier die Erklärung am Flughafen, nicht zur Ausreise bereit zu sein) wird die Aufenthaltsdauer in Deutschland nicht rechtsmiss­bräuchlich selbst beeinflusst iSd § 2 Abs. 1 AsylbLG.

2. Der Aufenthalt im sog. offenen Kirchenasyl, um eine Überstellung nach der Dublin-III-VO abzuwenden, stellt keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer in Deutschland nach § 2 Abs. 1 AsylbLG dar (Anschluss an BSG, Urteil vom 24.6.2021 - B 7 AY 4/20 R – juris).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Sozialrecht, Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, Leistungskürzung, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz, passiver Widerstand,
Normen: AsylbLG § 2, AufenthG § 48 Abs. 3
Auszüge:

[...]

28 Der im Vordergrund stehende Vorwurf der Vereitelung der Abschiebung am 25.1.2017 durch die Weigerung am Flughafen Köln/Bonn, das für die Ausreise nach Zagreb bereitstehende Flugzeug zu besteigen, ist zwar ohne Zweifel geeignet, die Aufenthaltsdauer in Deutschland zu beeinflussen bzw. - wie hier mit Erfolg - zu verlängern. Das allein passive Verhalten des Klägers - genauer seine Erklärung auf die Befragung eines Vollzugsbeamten der Bundespolizei Köln, er sei nicht bereit, den Flug anzutreten - bedeutet in objektiver Hinsicht aber kein unredliches, von der Rechtsordnung missbilligtes Verhalten, dem im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ein so erhebliches Gewicht zukommt, dass von einem rechtsmissbräuchlichen Verhalten i.S. des § 2 Abs. 1 AsylbLG ausgegangen werden kann. Nach der Rechtsprechung des BSG zu der sog. "Ehrenerklärung", also der für die Einreise in ihr Heimatland erforderlichen Erklärung von Angehörigen bestimmter Staaten (z.B. Mali, Somalia oder Iran), sie würden aus freien Stücken einreisen, ist es der betroffenen Person leistungsrechtlich - sowohl bei einer Anspruchseinschränkung nach § 1a AsylbLG als auch im Rahmen des § 2 Abs. 1 AsylbLG - nicht vorzuwerfen, wenn sie diese Erklärung nicht abgibt, weil sie den entsprechenden Willen nicht besitzt (vgl. BSG, Urteil vom 30.10.2013 - B 7 AY 7/12 R - juris Rn. 26-29; hierzu kritisch wegen der möglichen Fernwirkung auf asyl- und aufenthaltsrechtliche Fragen Berlit, jurisPR-SozR 22/2014 Anm. 3). Auf Grundlage dieser Rechtsprechung, der sich der Senat angeschlossen hat [...], ist auch das Unterlassen der Mitwirkung an einer Abschiebung allein durch passives Verhalten bzw. die (wahrheitsgemäße) Erklärung, nicht ausreisen zu wollen, in der Regel - soweit wie hier keine weiteren Umstände hinzutreten - kein rechtsmissbräuchliches Verhalten i.S. des § 2 Abs. 1 AsylbLG, weil dies in seinem Unwertgehalt nicht mit einem aktiven Entziehen von der Abschiebung gleichzusetzen ist. Diese Bewertung des Verhaltens steht mit der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung im Einklang, nach der ein passiver Widerstand gegen eine Abschiebung - wie auch hier - nicht zu einer Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) führt, weil darin kein gezieltes "sich Entziehen" von den für die Durchführung der Überstellung zuständigen nationalen Behörden gesehen werden kann, um die Überstellung zu vereiteln [...].

29 Dass sich der Kläger im Anschluss an diese (gescheiterte) Maßnahme vom 26.1. bis zum 1.2.2017 an einem der Ausländerstelle des Beklagten bzw. dem BAMF unbekannten Ort aufgehalten hat, stellt ebenfalls keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer in Deutschland dar. Nach der Rechtsprechung des Senats stellt zwar ein sog. "Untertauchen" (innerhalb des Bundesgebiets), durch das sich der an sich vollziehbar Ausreisepflichtige der für eine Abschiebung oder Überstellung zuständigen Behörde entzieht, in der Regel ein rechtsmissbräuchliches Verhalten i.S. des § 2 Abs. 1 AsylbLG dar [...]. Von einer zielgerichteten Beeinträchtigung aufenthaltsbeendender Maßnahmen durch "Untertauchen" kann hier nach den Umständen des Einzelfalles aber keine Rede sein. Der Kläger ist von den Vollzugsbeamten der LAB Braunschweig am Flughafen Köln/Bonn allein zurückgelassen worden und hat die Reise mit eigenen Barmitteln (nach dem Abschlussbericht der LAB Braunschweig vom 26.1.2017 wohl i.H.v. 50,00 €) angetreten. Es liegen schon keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger vom 26.1.2017 bis zu seiner Vorsprache bei der Ausländerstelle des Beklagten am 1.2.2017 nicht (postalisch) unter der Anschrift der ihm zugewiesenen Unterkunft in ... erreichbar gewesen ist [...].

30 Nach der Rechtsprechung des BSG stellt auch der Aufenthalt im sog. offenen Kirchenasyl, um eine Überstellung nach der Dublin-III-VO - hier nach Kroatien - abzuwenden, keine rechtsmissbräuchliche Beeinflussung bzw. Verlängerung der Aufenthaltsdauer in Deutschland dar, weil der Staat während eines offenen Kirchenasyls auf Grundlage der mit den Kirchen getroffenen Absprachen den weiteren Aufenthalt im Inland faktisch und generalisierend akzeptiert [...]. Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an (in diese Richtung bereits für das sog. offene Kirchenasyl ausführlich Senatsbeschluss vom 27.4.2020 - L 8 AY 20/19 B ER - juris Rn. 18 ff.). Dem Kläger ist auch insoweit nicht der Vorwurf eines rechtsmissbräuchlichen Verhaltens i.S. des § 2 Abs. 1 AsylbLG zu machen.

31 Schließlich hat er seine Aufenthaltsdauer in Deutschland bis November 2018 nicht durch ein Fehlverhalten im aufenthaltsrechtlichen Verfahren rechtsmissbräuchlich beeinflusst. Ein solcher Vorwurf kann bei einer nachhaltigen Verletzung von Mitwirkungspflichten i.S. des § 48 Abs. 3 AufenthG (u.a. zur Beschaffung eines Identitätspapiers) berechtigt sein [...]. Zweifel an der Identität des Klägers bestehen wegen der Vorlage seines iranischen Personalausweises, der ihm nach den Angaben bei der Anhörung beim BAMF vom 16.1.2018 von seinem Bruder aus dem Iran zugeschickt worden sein soll, im Asylverfahren nicht. Über einen gültigen Reisepass soll der Kläger nicht verfügt haben. Nachdem die zunächst unter dem 26.9.2018 verschickte Aufforderung der Ausländerstelle des Beklagten, sich um die Ausstellung eines Reisepasses oder eines Passersatzpapieres (Laissez-Passer o.Ä.) zu bemühen und einen Nachweis über die Bemühungen vorzulegen, postalisch nicht übermittelt werden konnte, ist der Kläger auf die entsprechende Aufforderung vom 10.10.2018 hinreichend durch die Vorlage einer Bescheinigung des Generalkonsulats der Islamischen Republik Iran in Hamburg vom 14.12.2018 über die Beantragung einer Ausstellung einer iranischen Geburtsurkunde nachgekommen. Eine zielgerichtete Verschleppung des aufenthaltsrechtlichen Verfahrens ist unter diesen Umständen nicht anzunehmen. [...]