VG Aachen

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Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 17.05.2023 - 4 K 1665/20.A - asyl.net: M31623
https://www.asyl.net/rsdb/m31623
Leitsatz:

Abschiebungsandrohung gegenüber Eltern wegen Nichtbeachtung des Kindeswohls unionsrechtswidrig:

Ist der Asylantrag eines Kindes, das mit den Eltern in familiärer Gemeinschaft lebt, vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt worden, aber ein Gerichtsverfahren mit aufschiebender Wirkung anhängig, so ist eine Abschiebungsandrohung gegenüber den Eltern unionsrechtswidrig, weil gemäß Art. 5 Bst. a, b RL 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) das Wohl des Kindes und die familiären Belange zu berücksichtigen sind. Soweit sich aus § 59 Abs. 3 S. 1 AufenthG, wonach dem Erlass der Abschiebungsandrohung Gründe für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegenstehen, etwas anderes ergibt, kommt diese Vorschrift aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts nicht zur Anwendung.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329; siehe auch: VG Berlin, Urteil vom 06.04.2023 - 34 K 21/22 A (Asylmagazin 6/2023, S. 234 f.) - asyl.net: M31492)

Schlagwörter: Rückkehrentscheidung, Kindeswohl, Abschiebungsandrohung, Schutz von Ehe und Familie, Familieneinheit, Rückführungsrichtlinie, Aufenthaltsgestattung, Suspensiveffekt,
Normen: AsylG § 34 Abs. 1 S. 1, RL 2008/115/EG Art. 5 Bst. a, RL 2008/115/EG Art. 5 Bst. b, AsylG § 55, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

IV. Die in dem angegriffenen Bescheid des Bundesamtes ergangene Abschiebungsandrohung ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten.

1. Die Beklagte kann die Abschiebungsandrohung nicht auf § 34 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 59 AufenthG stützen. Dem Erlass einer Abschiebungsandrohung steht Art. 5 lit. a und b der Richtlinie 2008/115/EG vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie - RRL -) entgegen. Danach berücksichtigten die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Rückführungsrichtlinie in gebührender Weise insbesondere das Wohl des Kindes und die familiären Bindungen. Daran fehlt es hier. [...]

Bei der Abschiebungsandrohung handelt es sich um eine Rückkehrentscheidung i. S. d. Art. 3 Nr. 4, Art. 6 Abs. 1 RRL (vgl. Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 16. Februar 2022 - 1 C 6.21 -, juris, 41, 45 und 56 m. w. N.).

Dem Erlass einer Rückkehrentscheidung in Form der streitgegenständlichen Abschiebungsandrohung stehen das Wohl der Tochter der Kläger und ihre familiäre Bindung zu diesen entgegen.

Beabsichtigt die zuständige nationale Behörde den Erlass einer Rückkehrentscheidung, muss sie die Verpflichtungen aus Art. 5 RRL zwingend einhalten und den Betroffenen hierzu anhören (vgl. EuGH, Urteile vom 11. Dezember 2014 - C-249/13 -, juris, Rn. 49, und vom 8. Mai 2018 - C-82/16 -, juris, Rn. 103). Angesichts des Zwecks von Art. 5 RRL, im Rahmen des mit der Richtlinie eingeführten Rückkehrverfahrens die Einhaltung u.a. der in Art. 24 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - EU-GRCharta - verankerten Grundrechte des Kindes zu gewährleisten, kann Art. 5 nicht eng ausgelegt werden (vgl. EuGH, Urteile vom 11. März 2021 - C-112/20 -, juris, Rn. 35, und vom 15. Februar 2023 - C-484/22 -, juris, Rn. 23).

Gefordert ist eine umfassende und eingehende Beurteilung der Situation des betreffenden Minderjährigen [...].

Dies gilt auch dann, wenn Adressat der Entscheidung nicht der Minderjährige, sondern - wie im vorliegenden Fall - dessen Eltern sind, sofern der Minderjährige - wie hier - über ein (zeitweiliges) Aufenthaltsrecht in dem betreffenden Mitgliedstaat verfügt (vgl. EuGH, Urteil vom 11. März 2021 - C-112/20 -, juris, Rn. 32 ff.).

Unter Berücksichtigung dieser Kriterien ist festzuhalten, dass die Tochter der Kläger mit diesen in familiärer Gemeinschaft zusammenlebt. Ihre Abschiebung würde diese gelebte familiäre Gemeinschaft unzumutbar eeinträchtigen. Die Tochter ist nach erstinstanzlicher Ablehnung ihres Asylantrags durch das Bundesamt durch Bescheid vom 11. Januar 2022 als einfach unbegründet in o.g. europarechtlichen Sinne zwar ebenfalls eine illegal aufhältige Drittstaatsangehörige im Sinne des Art. 3 Nr. 1, Nr. 2 RRL, Art. 9 Abs. 1 VRL. Sie verfügt aber über eine Berechtigung zum Verbleib in Deutschland während des für sie beim örtlich zuständigen Verwaltungsgericht Köln anhängigen Rechtsbehelfsverfahrens nach Art. 46 Abs. 1, Abs. 5 VRL, da ihr Schutzgesuch nur als (einfach) unbegründet abgelehnt worden ist. Nationalrechtlich steht ihr aus diesem Grund auch für die Dauer des Rechtsmittelverfahrens ein Bleiberecht in Form einer Aufenthaltsgestattung nach §§ 55, 67 AsylG zu. Es kann der Tochter während der Dauer ihres Asylverfahrens ohne Beeinträchtigung ihres Bleiberechts nach Art. 46 Abs. 1, Abs. 5 VRL und ohne (potentiellen) Verstoß gegen den Grundsatz der Nichtzurückweisung nach Art. 33 der Genfer Flüchtlingskonvention nicht zugemutet werden, die familiäre Gemeinschaft mit ihnen im Irak fortzuführen. Die Entscheidung über das Rechtsbehelfsverfahren des Kindes ist dem dafür nach Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG zuständigen gesetzlichen Richter vorbehalten, der im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung dann auch eventuelle in der Person des Kindes begründete Abschiebeverbote zu berücksichtigen hat.

Es genügt auch nicht, die Tochter der Kläger darauf zu verweisen, dass ihre familiären Belange als Gründe für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung i. S. d. § 60a Abs. 2 AufenthG der Vollstreckung der Abschiebungsandrohung entgegenstehen, ihre Eltern mithin nicht abgeschoben werden dürfen. Art. 5 lit. a und b RRL steht einer nationalen Rechtsprechung entgegen, nach der die Verpflichtung, beim Erlass einer Abschiebungsandrohung das Wohl des Kindes und dessen familiären Bindungen zu berücksichtigen, als erfüllt gilt, solange die Abschiebung nicht vollzogen wird (vgl. EuGH, Beschluss vom 15. Februar 2023 - C-484/22 -, juris, Rn. 27).

Vielmehr ist das Wohl des Kindes schon vor Erlass der eine Vollstreckungsgrundlage bildenden Rückkehrentscheidung - hier der Abschiebungsandrohung - zu berücksichtigen (vgl. EuGH, Urteil vom 11. März 2021 - C 112/20 -, juris, Rn. 43).

Soweit sich aus § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG, wonach dem Erlass der Abschiebungsandrohung Gründe für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung nicht entgegenstehen, etwas anderes ergibt, kommt diese Vorschrift aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts nicht zur Anwendung. Anderslautende Entscheidungen (vgl. insbesondere: BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2020 - 1 C 1.19 -, juris, Rn. 23 f.; OVG NRW, Urteil vom 23. April 2021 - 19 A 810/16.A -, juris, Rn. 92 ff., insb. 98 ff.; VG Aachen, Urteil vom 4. März 2022 - 6 K 2911/19.A -), sind durch die oben dargestellte jüngste Rechtsprechung des EuGH überholt. [...]