VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 10.05.2023 - 5 K 3084/22.TR - asyl.net: M31662
https://www.asyl.net/rsdb/m31662
Leitsatz:

Zur Bindungswirkung von Entscheidungen anderer Mitgliedstaaten:

Eine Bindungswirkung von in anderen Mitgliedstaaten getroffenen Entscheidungen besteht nicht. Die Aussetzung des Verfahrens wegen des Vorlagebeschlusses des BVerwG vom 07.09.2022 - 1 C 26.21 - hinsichtlich der Frage der Bindungswirkung ist nicht erforderlich.

(Leitsätze der Redaktion; siehe BVerwG, Beschluss vom 07.09.2022 - 1 C 26.21 - asyl.net: M30943)

Schlagwörter: Somalia, internationaler Schutz in EU-Staat, Bindungswirkung, Abschiebungsverbot, Vorlagebeschluss, Asylverfahren, Asylverfahrensrichtlinie, Zulässigkeit,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 3, AsylG § 4, AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

Die geltend gemachten Ansprüche nach §§ 3 und 4 AsylG scheitern allerdings nicht an § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, obwohl der Klägerin in Griechenland internationaler Schutz zuerkannt worden ist, weil die Beklagte im Hinblick auf die Klägerin festgestellt hat, dass deren Asylantrag derzeit wegen der Gefahr einer Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK und Art. 4 EU-GR-Charta infolge der Aufnahmebedingungen in Griechenland nicht nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG als unzulässig abgelehnt werden darf (zur Rechtswidrigkeit einer Unzulässigkeitsentscheidung in diesen Fällen: EuGH, Beschluss vom 13. November 2019 - C-540/17 und C-541/17 -). [...]

Schließlich kann die Klägerin nicht geltend machen, dass ihr die geltend gemachten Ansprüche nach §§ 3 und 4 AsylG alleine wegen des Umstands zustehen, dass ihr in Griechenland internationaler Schutz gewährt worden ist. Eine Bindungswirkung besteht insoweit nicht, zumal die Vermutung der richtigen Rechtsanwendung durch Griechenland wegen des feststehenden Verstoßes gegen Art. 3 EMRK und Art. 4 EU-GR-Charta - wie soeben ausgeführt - bereits in Zweifel gezogen ist. Dementsprechend hat die Kammer bereits mit Urteil vom 19.08.2022 - 5 K 2104/22.TR - wie folgt ausgeführt:

"... Das Bundesamt hat zu Recht in der Sache über den Asylantrag des Klägers entschieden. Hierbei war es nicht an die Entscheidung der Hellenischen Republik über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gebunden. Eine solche Bindung folgt weder aus Unions- noch aus Völkerrecht. Der Kläger ist auch nicht ipso facto-Flüchtling ...

Das Bundesamt ist nicht an die Entscheidung der Hellenischen Republik hinsichtlich des Flüchtlingsstatus gebunden (zu alledem bereits etwa: VG Ansbach, Urteil vom 14. Mai 2020 - AN 17 K 17.51040 -, juris Rn. 21 - 27).

Eine derartige Bindungswirkung ergibt sich nicht aus dem Unionsrecht. Nach Art. 78 Abs. 2 lit. a und b des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union - AEUV – besteht zwar die Kompetenz der Europäischen Union zur Festlegung eines in der ganzen Union einheitlichen Asylstatus für Drittstaatsangehörige und eines einheitlichen subsidiären Schutzstatus für Drittstaatsangehörige. Wie aus Art. 78 Abs. 2 lit. e AEUV folgt, obliegt die Prüfung der Anträge jedoch den mitgliedstaatlichen Behörden. Die maßgebende Richtlinie 2011/95/EU - Qualifikationsrichtlinie - sieht eine in der ganzen Union gültige Statusentscheidung nicht vor (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 -, juris Rn. 29).

Der Kläger äußert zwar die Auffassung, dass sich aus der Qualifikationsrichtlinie Vorgaben zur Anerkennung von Statusentscheidungen anderer Mitgliedstaaten ergäben, benennt diese aber nicht. Solche sind auch nicht erkennbar. Vielmehr geht das Unionsrecht nicht von der Möglichkeit einer "Anerkennung" der Statusentscheidung eines anderen Mitgliedstaates aus. Art. 33 Abs. 2 lit. a der Richtlinie 2013/32/EU - Verfahrensrichtlinie - sieht vor, dass ein Asylantrag nach einer Schutzzuerkennung in einem anderen Mitgliedstaat als unzulässig abgelehnt - und nicht etwa mit einer Anerkennung der Entscheidung des anderen Mitgliedstaats bedacht - wird. Diese Rechtslage wurde im Wesentlichen durch das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 19. März 2019 - C-297/17, C-318/17, C-319/17 und C-438/17 - bestätigt. Danach sind die Mitgliedstaaten sogar in den Fällen, in denen ein anderer Mitgliedstaat einer Person den subsidiären Schutzstatus zuerkannt hat, berechtigt, einen Antrag auf internationalen Schutz als unzulässig abzulehnen - ohne die Entscheidung des schutzgewährenden Staates anzuerkennen -, wenn der schutzgewährende Staat dieser Person die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft systematisch und ohne echte Prüfung verweigert. Daraus, dass in Ausnahmefällen die Ablehnung eines Asylantrags als gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig rechtswidrig ist, folgt nicht, dass der weitere Mitgliedstaat an die Entscheidung des ersten gebunden wäre. Für diese klägerisch angedeutete Annahme, dass in diesen Fällen ein Anspruch auf Anerkennung der Statusentscheidung ohne inhaltliche Prüfung bestünde, ist dem Unionsrecht nichts zu entnehmen. Hierfür ist auch kein sachlicher Grund erkennbar.

Für eine Bindungswirkung kann auch nicht der in der Rechtsprechung entwickelte Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens herangezogen werden, denn dieser fordert nicht die Bindung an eine Entscheidung eines anderen Mitgliedstaats über einen Antrag auf internationalen Schutz. Der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens bezieht sich lediglich darauf, dass im Hinblick auf die internationale Zuständigkeit grundsätzlich darauf zu vertrauen ist, dass ein anderer europäischer Staat seine Asylentscheidungen nach rechtsstaatlichen Gesichtspunkten unter Einhaltung von gemeinschaftlichen Verfahrensgrundsätzen und eines im Wesentlichen einheitlichen inhaltlichen Maßstabes trifft. Vorliegend geht es aber nicht um die internationale Zuständigkeit. Das Bundesamt hat die eigene Zuständigkeit vielmehr - den Vorgaben des Unionsrechts folgend zu Recht - angenommen und eine Sachentscheidung im Hinblick auf das Herkunftsland getroffen.

Eine Bindung an die Entscheidung der Hellenischen Republik ergibt sich auch nicht aus Völkerrecht, insbesondere nicht aus der Genfer Flüchtlingskonvention. Die Genfer Flüchtlingskonvention legt einheitliche Kriterien für die Qualifizierung als Flüchtling fest, sieht aber keine völkerrechtliche Bindung eines Vertragsstaats an die Anerkennungsentscheidung eines anderen vor (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. November 1979 - 1 BvR 654/79 -, juris, Rn. 32; BVerwG, Urteil vom 17. Juni 2014 - 10 C 7.13 - juris, Rn. 29). [...]

An dieser Auffassung, der die Klägerin nicht substantiiert entgegengetreten ist, hält die Kammer auch in Ansehung des Vorlagebeschlusses des BVerwG vom 07.09.2022 - 1 C 26.21 - fest, welches die Frage, ob in diesem Fall der Asylantrag noch ergebnisoffen geprüft werden kann oder ob ohne weitere materielle Prüfung eine Pflicht zur Übernahme der Schutzentscheidung des anderen Mitgliedstaates besteht, dem Gerichtshof der Europäischen Union vorgelegt hat. Eine Aussetzung des Verfahrens nach § 94 VwGO bis zur Beantwortung dieses Vorabentscheidungsersuchens wird von der Kammer nicht für erforderlich gehalten (so auch Urteil der 8. Kammer des erkennenden Gerichts vom 14.11.2022 - 8 K 2151/22.TR -, VG Karlsruhe Urteil vom 18.10.2022 - A 8 K 2210/22 - und VG Düsseldorf, Urteil vom 11.10.2022 - 17 K 4350/20.A -). [...]