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VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 27.04.2023 - 1 K 2535/21 - asyl.net: M31731
https://www.asyl.net/rsdb/m31731
Leitsatz:

Subsidiären Schutz wegen Wehrdienstentziehung in Ägypten:

Die Haftbedingungen, denen eine Person, die eine Haftstrafe wegen Wehrdienstentziehung verbüßt, ausgesetzt ist, stellen eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Ägypten, Wehrdienstentziehung, Haftbedingungen, subsidiärer Schutz, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Strafe, Haftbedingungen, Politmalus,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 4, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

Dem Kläger ist es nach diesen Maßstäben im vorliegenden Einzelfall derzeit nicht zuzumuten, nach Ägypten zurückzukehren, da ihm dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung droht. Der Kläger hat schlüssig dargelegt, dass ihm in Ägypten eine Haftstrafe wegen Wehrdienstentziehung droht. Zwar mag die Wahrscheinlichkeit, dass der Kläger tatsächlich militärstrafrechtlich belangt werden würde, bei unter 50 Prozent anzusetzen sein. Allerdings führt die besondere Schwere des dann zu befürchtenden Eingriffs, nämlich die Strafhaft unter menschenunwürdigen Bedingungen, in einer Gesamtbetrachtung zu einem Überwiegen der gegen eine gefahrlose Rückkehr sprechenden Tatsachen.

a. Gemäß Art. 48 des ägyptischen Gesetzes zum nationalen Militärdienst, Nr. 127 des Jahres 1980, unterliegen Wehrpflichtige spätestens ab dem Aufruf zur Musterung den Bestimmungen des ägyptischen Gesetzes über die Militärgerichtsbarkeit, Nr. 25 des Jahres 1966. Art. 154 des ägyptischen Gesetzes über die Militärgerichtsbarkeit sieht für Desertion und versuchte Desertion in Gestalt der Vermeidung des Militärdienstes eine Haftstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe vor (vgl. hierzu ausführlich VG Berlin, Urt. v. 3.6.2021 – VG 32 K 521-17 A -, juris S. 12 f. und Urt. v. 14.4.2022 - VG 32 K 694.17 A -, juris S. 24 f.). Laut der Erkenntnismittel droht eine solche Haftstrafe auch für den Fall, dass der Wehrdienstpflichtige das Land ohne Genehmigung oder länger als genehmigt verlässt und sich somit der Wehrpflicht entzieht (Home Office, Country policy and information note, Egypt: Military service, 25.10.2022, S. 41). [...]

Der Kläger hat über diese aufgrund seines Alters und Geschlechts allgemein geltende Möglichkeit zur Heranziehung zum Wehrdienst schlüssig dargelegt, dass er tatsächlich zur Ableistung seines Wehrdienstes herangezogen werden wird. Denn es müssen zwar die meisten, aber bei weitem nicht alle ägyptischen Männer als Wehrpflichtige in irgendeiner Form einen nationalen Dienst leisten (vgl. Home Office, Country policy and Information note, Egypt: Military service vom 28.11.2019, S. 8,12 f.; vgl. Department of foreign affairs and trade des Australian Government [DFAT], "Country Information report - Egypt" vom 17.6.2019, S. 33 f.) und die männliche Bevölkerung, die für den Militärdienst in Frage kommt, übersteigt die Zahl der tatsächlich in den Streitkräften diensttuenden Männer bei weitem, sodass in Ermangelung entsprechender Kapazitäten beim Militär nur ein Bruchteil der wehrpflichtigen Männer einberufen wird (vgl. Home Office, a.a.O., S. 8, 12, 16; DFAT, a.a.O., S. 34). Vor diesem Hintergrund muss ein Asylantragsteller, der sich auf Gefahren im Zusammenhang mit seiner Wehrpflicht beruft, in sich stimmig darlegen können, aus welchen Umständen er seine Verpflichtung herleitet und welchen Maßnahmen er in diesem Zusammenhang bereits ausgesetzt war. Er sollte also z.B. schildern können, ob er oder jedenfalls gleichaltrige Männer aus seinem sozialen Umfeld bereits registriert, rekrutiert beziehungsweise gemustert oder einberufen wurden oder warum dies gegebenenfalls jeweils nicht der Fall war, ob er im Besitz einer Militärdienstkarte war, ob sich aus anderen Personalpapieren Anhaltspunkte für seinen Militärdienststatus ergeben und gegebenenfalls ob, aus welchem Grund und für welchen Zeitraum er von der Verpflichtung, Wehrdienst zu leisten, befreit war (vgl. VG Berlin, Urt. v. 8.6.202 - 32 K 272.17 A -, juris Rn. 53 und Urt. v. 3.6.2021 - 32 K 521.17 A -, juris S. 11).

Diese Voraussetzung hat der Kläger durch Vorlage von ägyptischen Behördenunterlagen und seinen Ausführungen im Rahmen der mündlichen Verhandlung erfüllt. Der erkennende Einzelrichter geht hierbei davon aus, dass der Kläger aufgrund seiner vor der Ausreise aus Ägypten auf dem Luftweg beantragten Unterlagen beim ägyptischen Militär bereits registriert ist und er sich aufgrund der länger als genehmigten Ausreise aus Ägypten bereits wegen Wehrdienstentzug strafbar gemacht hat. [...]

b. Mit den gerichtlichen Erkenntnismitteln ist davon auszugehen, dass unmenschliche oder erniedrigende Haftbedingungen in Ägypten weit verbreitet sind. Nicht nur dokumentiert Amnesty International Überbelegung, schlechte Belüftungsverhältnisse, unzureichende Sanitär- und Hygienestandards, Mangelernährung, fehlenden Zugang zu sauberem Trinkwasser und Fehlen von Bewegungsmöglichkeiten (Amnesty International, "What do I care if you die?", 25.1.2021, S. 17 ff.), sondern auch das Auswärtige Amt hat Erkenntnisse über Folter und Misshandlungen in Gewahrsam der Polizei oder Staatssicherheit und schlechte Haftbedingungen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Ägypten vom 26.1.2022, S. 6). Ebenso berichtet das US-amerikanische Außenministerium von allgemein harten und potenziell gar lebensbedrohlichen Haftbedingungen wegen Überbelegung, Misshandlungen, unzureichender Gesundheitsversorgung, schlechter Infrastruktur und unzureichender Belüftung (vgl. United States - Department of State, Country Reports on Human Rights Practices for 2020, 30.3.2021, Abschnitt: "Prison and detention center conditions"). Dabei handelt es sich um eine sehr schwer zu gewichtende und nicht zu rechtfertigende Verletzung des Individuums sowohl in seinen Rechten aus Art. 3 EMRK wie auch in denen aus Art. 1 Abs. 1 GG. [...]

Darüber hinaus kann aus Sicht des erkennenden Einzelrichters nicht ausgeschlossen werden, dass der Wehrdienstentzug in Ägypten als politische Straftat bewertet wird mit den entsprechenden Folgen für die Haftbedingungen. Die dem Gericht zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel zeichnen hinsichtlich der Frage, ob die ägyptischen Behörden die Wehrdienstverweigerung als politische Straftat ansehen, ein uneinheitliches Bild. So wird teilweise vorgebracht, dass es keine Quellen dafür gebe, dass ägyptische Behörden den Wehrdienstentzug als politischen Akt bzw. politischen Oppositionsgesinnung ansehen (Information and Refugee Board of Canada [IRB], Egypt: Circumstances under which evading military service or being a conscientious objector would be considered an act of political opposition by the authorities; consequences for the evader or consentious objector [2016 - August 2018], 17.8.2018, S. 1). Von einem Mitarbeiter von Human Rights Watch wird dagegen ausgeführt, die ägyptischen Behörden sähen das Verhalten von Verweigerern aus Gewissensgründen als politische Opposition an (vgl. IRB, a.a.O., S. 2 f., unter Berufung auf eine Korrespondenz mit einem sachkundigen Mitarbeiter des Bereichs Mittlerer Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch vom 1.8.2018). Wieder an anderer Stelle wird angesichts des Umstandes, dass Ägypter aller politischer Strömungen - auch derjenigen, die die Regierung unterstützten - dazu neigen würden, sich dem Wehrdienst zu entziehen, davon ausgegangen, dass die Vermeidung des Wehrdiensts nur dann als politische Opposition angesehen werde, wenn sie tatsächlich auf politischer Grundlage erfolge (vgl. IRB, a.a.O., S. 1 f., unter Berufung auf eine Korrespondenz mit No to Compulsory Military Service Movement [NoMilService] vom 31.7.2018). Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass besondere persönliche Umstände, z.B. die Zugehörigkeit zu Minderheiten oder auch zur politischen Opposition, die Antwort des Militärs auf eine Wehrdienstentziehung härter und aggressiver ausfallen lassen können (vgl. IRB, a.a.O., S. 5 unter Berufung auf NoMilService vom 31.7.2018).

Vor dem Hintergrund der generell schlechten Haftbedingungen in Ägypten und der nicht auszuschließenden Möglichkeit der Einstufung des Wehrdienstentzugs als politische Straftat ist bei Abwägung aller Umstände im vorliegenden Einzelfall mit einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit von einer entsprechenden Gefährdung des Klägers auszugehen und ihm die Rückkehr nach Ägypten nicht zumutbar. [...]