LG Gießen

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Zitieren als:
LG Gießen, Beschluss vom 19.07.2023 - 7 T 353/22 - asyl.net: M31738
https://www.asyl.net/rsdb/m31738
Leitsatz:

Haftanordnung mangels Aufklärung über mögliche Anhörung von Ehepartner*in rechtswidrig:

1. Ehepartner*innen von Betroffenen sind im Unterschied zur alten Rechtslage zwar nicht mehr zwingend anzuhören. Ihre Anhörung als Beteiligte ist gemäß § 418 Abs. 3, 420 Abs. 3 FamFG fakultativ. Über die Möglichkeit der Anhörung von Ehepartner*innen sind Betroffene jedoch aufzuklären, und auch die allgemeine Sachaufklärungspflicht kann ihre Hinzuziehung oder Anhörung gebieten.

2. Wird gemäß § 420 Abs. 3 S. 2 FamFG von der Anhörung der Ehepartnerin/des Ehepartners abgesehen, weil die Anhörung nicht ohne eine erhebliche Verzögerung oder unverhältnismäßige Kosten möglich ist, ist dies entsprechend in der Haftentscheidung zu begründen.

3. Grundsätzlich ist die Akte der Ausländerbehörde in Abschiebehaftsachen als Bestandteil der richterlichen Amtsermittlung beizuziehen. Wird hiervon ausnahmsweise abgesehen, ist dies plausibel zu begründen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Anhörung, Ehepartner, Akteneinsicht, Akte der Ausländerbehörde, Beiziehung, Amtsermittlung, Sachaufklärungspflicht,
Normen: FamFG § 420 Abs. 1, FamFG § 420 Abs. 3, FamFG § 418 Abs. 3
Auszüge:

[...]

Die danach zulässige Beschwerde ist auch begründet. So lässt sich der angefochtenen Entscheidung bereits nicht entnehmen, aus welchen Gründen die Akten der Ausländerbehörde nicht als Bestandteil der richterlichen Amtsermittlung (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.05.2020 - 2 BvR 2345/16) bei der Entscheidung über die erfolgte Haftanordnung beigezogen wurden. Zwar ist anerkannt, dass in Fällen, in denen die Akten nicht oder im Hinblick auf die Eilbedürftigkeit nicht rechtzeitig erreichbar sind, Ausnahmen von dem Grundsatz der Beiziehung der (vollständigen) Akten der Ausländerbehörde zulässig sind, doch muss in solchen Fällen das Gericht seiner Pflicht zur eigenständigen, aktuellen und erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts auf andere Weise nachvollziehbar genügen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 13.11.2017 - 2 BvR 1381/17). Selbst wenn die Ausländerakte keine Informationen enthält, die über den Inhalt des Haftantrags nebst Anlagen hinausgehen, so muss das Haftgericht in einem solchen Einzelfall doch zumindest ausdrücklich im Haftbeschluss feststellen und plausibel begründen, warum ausnahmsweise von der Beiziehung der Ausländerakte abgesehen werden konnte (vgl. BVerfG, Beschl. v. 14.05.2020 - 2 BvR 2345/16). [...]

Der angefochtene Beschluss stellt sich darüber hinaus auch insoweit als rechtswidrig dar, als sich der Entscheidung keinerlei Anhaltspunkte dazu entnehmen lassen, weshalb seitens des Gerichts von einer Anhörung der Ehefrau des Betroffenen im Rahmen der Haftanordnung abgesehen wurde. Zwar ist der Antragstellerin beizupflichten, dass in § 420 Abs. 3 FamFG das Gesetz die Anhörung an die Beteiligteneigenschaft bindet und nach § 418 Abs. 3 Nr. 1 FamFG der Ehegatte des Betroffenen bei Freiheitsentziehungen in dessen Interesse beteiligt werden kann. Soweit danach - im Gegensatz zur Vorgängerregelung des § 5 Abs. 3 S. 2 FreihEntzG - eine obligatorische Anhörung des Ehegatten für Freiheitsentziehungsverfahren verpflichtend nicht mehr normiert ist (a.A. offensichtlich Grotkopp in: Bahrenfuss, FamFG 3. Aufl., § 420 Anhörung), ist zu berücksichtigen, dass auch die allgemeine Sachaufklärungspflicht eine Hinzuziehung oder zumindest eine Anhörung der in § 418 FamFG genannten Personen gebieten kann (vgl. Drews in: Prütting/Helms, FamFG, 6. Aufl. 2023, § 418 Rn 5). Zwar kann nach dem Gesetz (§ 420 Abs. 3 S. 2 FamFG) dann von der Anhörung abgesehen werden, wenn die Anhörung nicht ohne erhebliche Verzögerung oder nicht ohne unverhältnismäßige Kosten möglich ist, doch lassen sich Anhaltspunkte hierzu der angefochtenen Entscheidung nicht entnehmen. Auch der Hinweis des Antragstellers, der Betroffene habe eine Beteiligung bzw. Anhörung seiner Ehefrau nicht gewünscht, lässt unberücksichtigt, dass das Gericht über die Hinzuziehungsmöglichkeit zu belehren hat, um die in seinem Ermessen stehende Entscheidung ermessensfehlerfrei treffen zu können (vgl. Heinze/Roffael in: Dutta/Jacoby/ Schwab, FamFG 4. Aufl. 2021, § 418 Rn 4). Auch ein Hinweis auf diese Möglichkeit lässt sich der Akte nicht entnehmen. Dies war vorliegend aber schon deshalb erforderlich, da die Ehefrau des Betroffenen im Hinblick auf ihr eigenes Verfahren ersichtlich ohne erhebliche Verzögerungen und ohne erhebliche Kosten hätte angehört werden können und nicht auszuschließen ist, dass eine Anhörung ihrer Person zusätzliche entscheidungsrelevante Gesichtspunkte im Hinblick auf die zu treffende Haftentscheidung erbracht hätte. Mangels eines entsprechenden Hinweises auf die Hinzuziehungsmöglichkeit scheidet auch eine rechtliche Überprüfung dahingehend aus, ob gegenständlich der Ermessensnichtgebrauch die Entscheidung kausal beeinträchtigt hat. Offenbleiben kann in diesem Zusammenhang, ob die Anhörung im Beschwerdeverfahren grundsätzlich wirksam nachgeholt werden kann, da die Abschiebung des Betroffenen bei Eingang der Akten bei dem Beschwerdegericht bereits vollzogen war. [...]