VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 27.06.2023 - 29 K 3075/23.A (Asylmagazin 10-11/2023, S. 382 f.) - asyl.net: M31757
https://www.asyl.net/rsdb/m31757
Leitsatz:

Keine Unterbrechung der Überstellungsfrist trotz gerichtlicher Anordnung der aufschiebenden Wirkung:

"Eine Entscheidung, die eine aufschiebende Wirkung allein deshalb anordnet, weil eine Überstellung des Ausländers in den ersuchten Mitgliedstaat aus praktischen Gründen unmöglich ist, ist nicht geeignet, die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO zu unterbrechen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Corona-Virus, Überstellungsfrist, Unterbrechung der Frist, Abschiebungsanordnung, Feststehen, Abschiebungshindernis, Dublin III-Verordnung, Rechtsmittel, Suspensiveffekt, aufschiebende Wirkung
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 27 Abs. 3, AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Zwar ist nach Art. 12 Abs. 2, Abs. 4 UAbs. 1 Dublin III-VO ursprünglich die Tschechische Republik für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers zuständig gewesen [...].

Die ursprünglich bestehende Zuständigkeit der Tschechischen Republik ist jedoch gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO auf die Beklagte übergegangen. [...]

Vorliegend haben die tschechischen Behörden der Überstellung des Klägers mit Schreiben vom ... September 2020, bei der Beklagten eingegangen am selben Tag (Beiakte, Heft 1, Bl. 112), zugestimmt. Diesen Zeitpunkt zugrundegelegt, endete die Überstellungsfrist am März 2021.

Der vom Kläger am ... November 2020 gestellte Eilantrag, über den das Gericht am 27. November 2020 zu seinen Gunsten entschieden hat (Az.: 29 L 2201/20.A), vermochte die Überstellungsfrist nicht zu  unterbrechen. Zwar beginnt die Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Alt. 2 Dublin III-VO mit der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn der Ausländer vor dem Ablauf der Überstellungsfrist einen Rechtsbehelf mit aufschiebender Wirkung im Sinne von Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO einlegt. Der unionsrechtliche Begriff der "aufschiebenden Wirkung" ist jedoch nicht deckungsgleich mit demjenigen auf nationaler Ebene (BVerwG, Urteil vom 26. Mai 2016 – 1 C 15/15 –, juris Rn. 11).

So ist eine Entscheidung, die eine aufschiebende Wirkung allein deshalb anordnet, weil eine Überstellung des Ausländers aus praktischen Gründen unmöglich ist, nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs nicht geeignet, die Überstellungsfrist zu unterbrechen. Dies hat der Europäische Gerichtshof zuletzt in mehreren Entscheidungen unmissverständlich klargestellt:

"Zum anderen war der Unionsgesetzgeber nicht der Ansicht, dass sich die praktische Unmöglichkeit, eine Überstellungsentscheidung durchzuführen, für eine Rechtfertigung der Unterbrechung oder der Aussetzung der in Art. 29 Abs. 1 der Dublin-III-Verordnung bezeichneten Überstellungsfrist eigne.

Er hat nämlich keine allgemeine Bestimmung in diese Verordnung aufgenommen, die eine solche Unterbrechung oder eine solche Aussetzung vorsieht." (EuGH, Urteil vom 22. September 2022 – C-245/21 –, juris Rn. 65 f.; EuGH, Urteil vom 12. Januar 2023 – C-323/21 bis C-325/21 –, juris Rn. 69). Noch deutlicher wird das Gericht in dem zuletzt genannten Urteil:

"Der Gerichtshof hat deshalb entschieden, dass die in dieser Bestimmung [gemeint ist Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO, Anm. d. Verf.] vorgesehene Überstellungsfrist in Situationen, in denen die Überstellung der betreffenden Person unmöglich ist, angewendet werden muss […]." (EuGH, Urteil vom 12. Januar 2023 – C-323/21 bis C-325/21 –, juris Rn. 70).

Dafür, dass bei faktischer Unmöglichkeit der Überstellung die Überstellungsfrist nicht unterbrochen wird, spricht auch der Wortlaut von Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 Dublin III-VO, wonach die Durchführung der Überstellung von zwei Voraussetzungen abhängt: Eine Überstellung darf nur erfolgen, wenn sie erstens praktisch möglich ist und zweitens die sechsmonatige Überstellungsfrist eingehalten wird. Da es sich hierbei um zwei isolierte Tatbestandsmerkmale handelt, die kumulativ ("und") erfüllt sein müssen, um die Rechtsfolge eintreten zu lassen, schließen sie sich wechselseitig aus. Die praktische Unmöglichkeit, eine Überstellung durchzuführen, kann daher kein Grund für eine Unterbrechung der Überstellungsfrist sein. Im Falle der praktischen Unmöglichkeit einer Überstellung sieht die Dublin III-VO nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs demzufolge (abgesehen von Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO) keine rechtliche Möglichkeit vor, die Überstellungsfrist zu verlängern. Deswegen kann in diesen Konstellationen weder eine kraft nationalen Gesetzes noch durch gerichtliche Entscheidung angeordnete aufschiebende Wirkung die europarechtlich verankerte Überstellungsfrist unterbrechen. Vielmehr läuft in diesen Fällen die Überstellungsfrist ab der Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch den anderen Mitgliedstaat weiter.

Vorliegend konnte eine Überstellung des Klägers nicht realisiert werden, weil ihre Durchführung praktisch unmöglich war. Insoweit hatte die Tschechische Republik mit E-Mail vom Oktober 2020 mitgeteilt, dass wegen der Corona-Pandemie alle eingehenden Überstellungen ab dem 2. November 2020 bis auf weiteres ausgesetzt würden. Das Bundesamt selbst hatte mit Schriftsatz vom November 2020 hierauf hingewiesen. Die Überstellung des Klägers war mithin aus praktischen Gründen unmöglich. Hierauf hatte das Gericht in seinem Beschluss vom 27. November 2020 auch hingewiesen. Es hat unmissverständlich festgestellt, dass der Abschiebung ein Vollzugshindernis entgegenstehe, weshalb im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG feststehe, dass sie nicht durchgeführt werden könne. [...]