VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 14.04.2023 - 12 A 4071/18 - asyl.net: M31778
https://www.asyl.net/rsdb/m31778
Leitsatz:

Flüchtlingseigenschaft für jesidische geschiedene Frau aus dem Irak:

Die Klägerin gehört zu der Gruppe der alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige und wäre daher bei einer Rückkehr in den Irak Verfolgungshandlungen ausgesetzt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Frauen, Irak, Nordirak, Yeziden, alleinstehende Frauen, geschiedene Frauen, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

21 Nach diesen Maßgaben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Einzelrichterin ist der Überzeugung, dass der Klägerin bei einer hypothetischen Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige im Irak droht. Für Angehörige dieser Gruppe ist eine landesweite Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure anzunehmen, ohne dass der irakische Staat oder andere Gruppen sie schützen könnten [...]. Zur Begründung nimmt die Einzelrichterin die folgenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts des Saarlandes in Bezug (Urt. v. 15.11.2022 - 6 K 323/21 -, juris Rn. 29 ff.):

22 "Der Auskunftslage zufolge ist die irakische Gesellschaft von Diskriminierung der Frauen geprägt. Die Frauen werden in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt, sie werden gegenüber den Männern diskriminiert, sie werden in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beschnitten und ihnen wird es sehr erschwert, alleine zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und entsprechend zu arbeiten. Ihnen drohen Ehrenmorde und Zwangsverheiratung sowie Misshandlung, wenn sie sich nicht den strengen Bekleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften in der Öffentlichkeit unterordnen.

23,24 Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. In der irakischen Verfassung ist zwar die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben, Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Paragrafen als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. Frauen werden noch immer in Ehen gezwungen, rund 20 % der Frauen werden vor ihrem 18. Lebensjahr (religiös) verheiratet, viele davon im Alter von 10 bis 14 Jahren. 10 % der irakischen Frauen sind Witwen, viele davon Alleinversorgerinnen ihrer Familien. Ohne männliche Angehörige erhöht sich das Risiko für diese Familien, Opfer von Kinderheirat und sexueller Ausbeutung zu werden. Das gesellschaftliche Klima gegenüber Geschiedenen ist zwar nicht offen repressiv. Üblicherweise werden geschiedene Frauen in die eigene Familie reintegriert. Aufgrund ihres geschiedenen Status sind sie aber oft weiteren Formen von Missbrauch und Stigmatisierung ausgesetzt. Aufgrund der negativen gesellschaftlichen Wahrnehmung von geschiedenen Frauen sind sie insbesondere auch durch sexuellen Missbrauch gefährdet. Viele Frauen und Mädchen sind darüber hinaus durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. Es gibt Berichte über Zwangsprostitution irakischer Mädchen und Frauen im Land und in der Nahost- und Golfregion (vgl. zu Vorstehendem Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, vom 25.10.2021, Pol-1-516.80/ALB, sowie Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Irak, aus dem COI-CMS, Version 6, vom 22.08.2022, und Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Irak: Scheidung, Situation geschiedener Frauen, vom 01.10.2018; ferner UNHCR, UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, vom Mai 2019). [...]"

28 Diese Bewertung gilt weiterhin. Ausweislich der aktuellen Erkenntnismittel ist die Lage für alleinstehende Frauen, insbesondere ohne schutzbereite männliche Familienangehörige, unverändert prekär (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak v. 28.10.2022, S. 11 ff.; European Union Agency for Asylum (EUAA), Iraq – Targeting of Indiviuals, Januar 2022, S. 81 f.; EUAA, Country Guidance: Iraq, Juni 2022, S. 133 ff.,141 ff.).

29 Die Einzelrichterin geht davon aus, dass die Klägerin alleinstehend ist und dass sich im Irak keine Familienangehörigen von ihr mehr aufhalten. Aus den Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung sowie der informatorischen Befragung der zuständigen Sozialarbeiterin des Kommunalen Sozialdienstes der ... und des Bruders der Klägerin, Herrn ..., hat sich ergeben, dass die Klägerin während ihres Aufenthalts in Deutschland nach religiösem Ritus einen yezidischen Iraker geheiratet und im Juni 2022 ein gemeinsames Kind bekommen hat und dass diese religiöse Ehe aufgrund der Gewalttätigkeit des Mannes kurz darauf geschieden worden und die Tochter der Klägerin bei ihr verblieben ist. Die Klägerin und ihr Bruder konnten auch überzeugend schildern, dass sämtliche Mitglieder der Großfamilie der Klägerin den Irak dauerhaft verlassen haben, insbesondere auch der Onkel, bei dem die Klägerin vor ihrer Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland gelebt hatte. Da die Klägerin in den Augen der irakischen Gesellschaft eine geschiedene Frau ist, sie als Analphabetin einen geringen Bildungsstand hat und sie bei einer Rückkehr in den Irak entweder in einem Flüchtlingscamp oder in der ländlichen Umgebung ihres Herkunftsdorfs unterkommen müsste, ist sie zudem in verschiedener Hinsicht besonders vulnerabel. [...]