VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Beschluss vom 21.07.2023 - 1 V 1559/23 - asyl.net: M31802
https://www.asyl.net/rsdb/m31802
Leitsatz:

Aufhebung eines Dublin-Bescheids wegen Familienangehöriger im Asylverfahren:

1. Maßgeblicher Zeitpunkt dafür, dass sich Familienmitglieder der antragstellenden Person gemäß Art. 10 Dublin-III-VO im Asylverfahren befinden, ist gemäß Art. 7 Abs. 2 Dublin-III-VO der Zeitpunkt des ersten Asylantrags der antragstellenden Person. Hatten die Familienmitglieder zu diesem Zeitpunkt noch keinen Asylantrag gestellt, findet Art. 10 Dublin-III-VO keine Anwendung.

2. Aus dem Umstand, dass die Familienangehörigen zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung wegen ihres Asylantrags in Deutschland über eine Aufenthaltsgestattung gemäß § 55 Abs. 1 S. 1 AsylG verfügen, ergibt sich jedoch ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG. Denn eine Trennung der Familie wäre mit Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 7 GR-Charta nicht vereinbar.

(Leitsätze der Redaktion; Anmerkung: Das VG Bremen nimmt ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß § 60a Abs. 2 S. 1 AufenthG an. Alternativ wäre anzunehmen, dass entgegen § 34a Abs. 1 AsylG nicht feststeht, dass die Abschiebung durchführbar ist bzw. ein Anspruch auf Selbsteintritt gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO besteht; siehe auch: VG Osnabrück, Urteil vom 20.04.2022 - 5 A 394/20 - asyl.net: M30611)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Familienangehörige, Schutz von Ehe und Familie, Eltern-Kind-Verhältnis, minderjährig, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, Abschiebungsanordnung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AufenthG § 60a Abs. 2 S. 1, GG Art. 6 Abs. 1, GR-Charta Art. 7, VO 604/2013 Art. 10, VO 604/2013 Art. 7 Abs. 2
Auszüge:

[...]

a. Entgegen der Auffassung des Antragstellers ergibt sich für ihn jedoch kein Anspruch auf Zuständigkeitserklärung der Antragsgegnerin aus Art 10 Dublin III-VO. Nach Art. 10 Dublin III-VO ist ein Mitgliedstaat für weitere Familienmitglieder zuständig, wenn über den Asylantrag eines sich in diesem Mitgliedstaat befindenden anderen Familienmitglieds noch nicht in der Sache entschieden ist und dieses Familienmitglied diesen Wunsch schriftlich geäußert hat. Nach Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO kommt es für die Beurteilung der Voraussetzungen auf den Zeitpunkt der ersten Asylantragstellung in einem Mitgliedstaat des Nachzugswilligen an. Damit ist hier aufgrund des EURODAC-Treffers auf den 11.02.2023 abzustellen. Zu diesem maßgeblichen Zeitpunkt der Asylantragstellung des Antragstellers in Kroatien lag für seine Ehefrau und Kinder in Deutschland zwar - wie nach Art. 10 Dublin III-VO nötig - noch keine Entscheidung über ihre Asylanträge vor, für sie lagen aber zu diesem Zeitpunkt auch überhaupt noch keine Asylanträge vor. Diese wurden vielmehr erst am 22.05.2023 gestellt und damit nach der Asylantragstellung des Antragstellers in Kroatien. Voraussetzung von Art 10 Dublin III-VO ist aber, dass für die Referenzperson die Zuständigkeit der Bundesrepublik Deutschland für dessen Asylantrag bereits feststeht (vgl. Thomann, in BeckOK, Migrations- und Integrationsrecht, Decker/Bade/Kothe, 15. Ed. 15.04.2023, Art 10 Dublin III-VO, Rn. 1 und 4), was vor einer Asylantragstellung in der Bundesrepublik und bis dahin allein existierendem Asylantrag in Kroatien nicht der Fall war und sein konnte (vgl. VG Ansbach, B. v. 18.06.2021 - AN 17 E 21.50114, juris Rn. 30).

b. Im Falle des Antragstellers liegt hingegen ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i.V.m. Art 6 Abs. 1 GG, Art 8 Abs. 1 EMRK vor, weil sich seine Ehefrau und minderjährigen Kinder in Deutschland aufhalten und mithin eine Trennung der (Kern-) Familie zu befürchten ist, wenn die Abschiebung des Antragstellers nach Kroatien vollzogen werden würde. [...]

Die bei Vollzug der Abschiebungsanordnung erfolgende Trennung der Kernfamilie wäre vorliegend mit dem von Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 7 GRCh, Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Recht auf Wahrung der Familieneinheit unvereinbar. Die Asylanträge der Kinder des Antragstellers und seiner Ehefrau prüft die Antragsgegnerin im nationalen Verfahren. Eine Rechtsgrundlage für ihre Aufnahme in Kroatien ist nicht ersichtlich. Bei einem Vollzug der Abschiebungsanordnung nach Kroatien würde die Familieneinheit der Kernfamilie, bestehend aus Eltern und Kindern, auseinandergerissen. Der Antragsteller befände sich in Kroatien im Asylverfahren ohne die Möglichkeit der Herstellung der familiären Lebensgemeinschaft mit seinen kleinen Kindern und der Kindesmutter, welche sich im Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland befänden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass auch nur eine vorübergehende räumliche Trennung von seinem Vater, vor allem für den etwas über ein Jahr alten Kläger zu 4., nicht zu begreifen wäre und sich für ihn vielmehr als ein endgültiger Verlust darstellen dürfte (vgl. BVerfG, B.v. 23.01.2006 - 2 BvR 1935/05, juris Rn. 20 ff.; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 06.06.2019 - OVG 11 S 38.19, juris Rn. 5). [...]

Mit Blick auf die Begründung des streitgegenständlichen Bescheids ist zudem klarzustellen, dass der durch Art 8 Abs. 1 EMRK gewährte Schutz der Familie nicht unter dem Vorbehalt steht, dass die Familienmitglieder, von denen eine Trennung durch eine Abschiebung bewirkt würde, über ein gesichertes Aufenthaltsrecht verfügen und demnach ein bloßes vorübergehendes verfahrensbegleitendes Aufenthaltsrecht - wie es § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG vermittelt - nicht ausreichen würde (vgl. VG München, U.v. 03.04.2023 - M 27 K 22.30441, juris, Rn. 30). [...]

Die Ehefrau und Kinder des Antragstellers verfügen aufgrund der Äußerung ihrer Asylgesuche (§ 13 Abs. 1 AsylG) über Aufenthaltsgestattungen nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG und somit über ein zwar auf die Dauer des Statusfeststellungsverfahrens beschränktes und vorläufiges, aber dennoch vor jedweder Überstellung in einen möglichen Verfolgerstaat schützendes Aufenthaltsrecht [...]. Sie sind mithin derzeit nicht vollziehbar ausreisepflichtig, da die Aufenthaltsgestattung gem. § 67 Abs. 1 Nr. 6 AsylG erst erlischt, wenn die Entscheidung des Bundesamtes unanfechtbar geworden ist [...].

Vorliegend ist nach alledem auch eine nur vorübergehende räumliche Trennung des Antragstellers - gerade von seinen minderjährigen Kleinkindern - von der Kernfamilie angesichts des Rechts des Antragstellers auf familiäres Zusammenleben nicht zu rechtfertigen. [...]