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VG Lüneburg

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Zitieren als:
VG Lüneburg, Urteil vom 08.06.2023 - 2 A 161/20 (Asylmagazin 10-11/2023, S. 367 ff.) - asyl.net: M31804
https://www.asyl.net/rsdb/m31804
Leitsatz:

Anerkennung als Flüchtling für belutschischen Aktivisten aus Pakistan:

1. Die Vermutung erneut drohender Verfolgung gemäß Art. 4 Abs. 4 QRL [RL 2011/95/EU] findet auch dann Anwendung, wenn die betroffene Person nicht verfolgt wurde, aber von Verfolgung unmittelbar bedroht war. Dem in der belutschischen Bewegung aktiven Kläger drohte unmittelbar Verfolgung, weil der Geheimdienst sein Elternhaus durchsucht, nach ihm gefragt und seinen Cousin verhört und gefoltert hat.

2. Militär und Geheimdienste üben in Pakistan Druck auf oppositionelle Parteien aus. Abweichende Meinungen und regierungskritische Organisationen werden unterdrückt. Auf die belutschische Bewegung wird großer Druck ausgeübt. Die Erkenntnismittel berichten von dem Staat zurechenbaren Menschenrechtsverletzungen wie extralegalen Tötungen, willkürlichen Inhaftierungen und der landesweiten Praxis des sog. "Verschwindenlassens".

3. Der Umstand, dass der Kläger ungehindert legal über einen Flughafen aus Pakistan ausreisen konnte, spricht nicht dagegen, dass er bei Rückkehr wieder in den Fokus der Sicherheitskräfte gelangen und asylrechtlich relevante Verfolgung erdulden müsste.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: OVG Niedersachsen, Urteil vom 06.09.2022 - 11 LB 198/20 - asyl.net: M31059; VG Kassel, Urteil vom 19.01.2022 - 4 K 2909/17.KS.A - asyl.net: M30676)

Schlagwörter: Pakistan, Belutschen, politische Verfolgung, legale Ausreise, Ausreise, Belutschistan, BSO, Baloch Students Organization, FBM, Free Balochistan Movement, ISI, Geheimdienst, Vorverfolgung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 4,
Auszüge:

[...]

Der Kläger ist Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG. [...]

Hier ist der Kläger nach seinem glaubhaften Vortrag, der durch die Erkenntnismittel bestätigt wird, schon in seinem Herkunftsland verfolgt worden bzw. von Verfolgung unmittelbar bedroht gewesen, weshalb die Verfolgungsvermutung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie greift. Davon ausgehend droht dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei seiner Rückkehr Verfolgung.

Der Kläger hat vorgetragen, er habe - wie praktisch alle männlichen Familienangehörigen - an Demonstrationen zugunsten der belutschischen Bewegung teilgenommen. Am ... 2019 seien Geheimdienstangehörige bei ihm zu Hause erschienen und hätten nach ihm und seinem Cousin gesucht. Seinen Cousin hätten sie mitgenommen; er selbst sei zu diesem Zeitpunkt in der Schule gewesen. Sein Cousin sei mitgenommen und wie er, der Kläger, später erfahren habe, gefoltert und u.a. zu ihm, dem Kläger, befragt worden. Vergleichbares sei in der Vergangenheit auch seinem Bruder widerfahren. Sein Onkel sei getötet worden.

Dieser Vortrag ist nach Einschätzung des Gerichts glaubhaft. Der Kläger hat zunächst sein Engagement für die belutschische Sache in schlüssiger Weise dargestellt. Der Kläger ist nach Einschätzung des Gerichts kein exponierter Regimegegner, für ihn ist es aber nach dem Eindruck, den sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung verschafft hat, selbstverständlich, gegen die an Belutschen begangenen Menschenrechtsverletzungen auf die Straße zu gehen. Dass der Kläger offenbar keine differenzierte politische Haltung eingenommen hat, führt nicht dazu, dass sein Vortrag zu seinem Engagement unglaubhaft wäre. Denn Beweggrund für sein Engagement ist nach seinem nachvollziehbaren Vortrag vor allem der Umstand, dass seine Familie auch persönlich wiederholt von Repressalien und Versuchen der Einschüchterung durch die pakistanische Bevölkerung betroffen gewesen ist. So hat er vorgetragen, dass schon sein Onkel Opfer des sog. und aus den Erkenntnismitteln bekannten "Verschwindenlassens" geworden ist. Auch sein Cousin und sein Bruder seien wiederholt mitgenommen und gefoltert worden.

Der Vortrag des Klägers war geprägt von knappen Aussagen. Er hat nichts ausgeschmückt, insbesondere von Beginn an eingeräumt, nur als einfaches Mitglied der BSO gehandelt zu haben und insofern zu keinem Zeitpunkt versucht, sein politisches Engagement besonders gut darstellen. Soweit er von Geschehnissen nur vom Hörensagen Kenntnis erlangt hat, hat er das zu verstehen gegeben. Sein Vortrag erscheint darum insgesamt glaubhaft.

Der Vortrag wird gestützt von den Erkenntnismitteln. Danach üben Militär und Geheimdienste zum Beispiel immer wieder Druck auf ungeliebte politische Parteien - in der Regel auf die Opposition - aus, während staatsnahe politische Parteien im Übrigen weitgehend frei operieren können. Die Behörden setzen Gesetze zur Terrorismusbekämpfung ein, auch um etwa abweichende Meinungen zu unterdrücken, und gehen streng gegen zivilgesellschaftliche Gruppen und Organisationen vor, die sich kritisch zu Regierungsmaßnahmen oder -politik äußern. [...]

Das Verhältnis zwischen Belutschen und der pakistanischen Regierung ist von einer ethnischen Spaltung geprägt und seit jeher angespannt. Der Konflikt besteht im Grundsatz seit Pakistans Unabhängigkeit im Jahr 1947. Sowohl Pakistan als auch Belutschistan wurden damals zu unabhängigen Staaten erklärt, wobei die Unabhängigkeit im Fall von Belutschistan nur kurz währte: 1948 wurde das Gebiet von Pakistan besetzt und annektiert. Seither wird die Macht in Belutschistan hauptsächlich durch staatliche Sicherheitskräfte ausgeübt, während andere staatliche Institutionen nur begrenzte Einflussmöglichkeiten haben. [...] Der pakistanische Staat geht der belutschischen Sache verpflichteten Bewegung höchst ablehnend gegenüber und übt großen Druck aus. Die Erkenntnismittel berichten von dem Staat zurechenbaren Menschenrechtsverletzungen wie extralegale Tötungen, willkürliche Inhaftierungen und der Praxis des sog. "Verschwindenlassens", wobei Verschwindenlassen im ganzen Land vorkommt [...]. Die Erkenntnismittel lassen unzweifelhaft den Schluss zu, dass der pakistanische Staat zumindest auch für diese Repressalien verantwortlich ist oder sich staatliche Akteure jedenfalls an den Menschenrechtsverletzungen, wie dem Verschwindenlassen, beteiligen [...]. Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse, erscheint die Schilderung des Klägers zu den Repressalien, die er und verschiedene Familienangehörige ausgesetzt war, plausibel. [...]

Der Vortrag des Klägers erscheint auch nicht deshalb im Lichte der Erkenntnismittel unglaubhaft, weil sich die von ihm geschilderten Vorfälle in Karachi, also im Sindh, und nicht in Belutschistan selbst ereignet haben sollen. Aus den Erkenntnismitteln ergibt sich zwar, dass die Lage in Belutschistan selbst sicherlich besonders angespannt ist. In den Erkenntnismitteln heißt es aber in unterschiedlichen Quellen auch, die Problematik des Verschwindenlassens ereigne sich landesweit [...].

Aus seinem Vortrag folgt, dass der Kläger von Verfolgung unmittelbar bedroht war und insofern im Sinne von Art. 4 der Qualifikationsrichtlinie vorverfolgt ausgereist und deshalb im Falle seiner Rückkehr die tatsächliche Vermutung besteht, dass er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung ausgesetzt sein wird.

Aufgrund des Eindringens von Mitarbeitern der ISI in sein Elternhaus, die nach seinem Cousin und ihm suchten, war auch der Kläger selbst unmittelbar von Verfolgung im Sinne des § 3a AsylG bedroht. Das Gericht schließt daraus, dass der Cousin des Klägers nach den glaubhaften Angaben des Klägers gefoltert wurde, dass dem Kläger, wäre er aufgegriffen worden, eine vergleichbare Behandlung gedroht hätte und diese Behandlung die für die Annahme einer Verfolgungshandlung erforderliche Intensität erreicht hätte. Weil dem Kläger die unmittelbar bevorstehende Verfolgungshandlung aufgrund seiner politischen Überzeugung im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG drohte, ist auch die gemäß § 3a Abs. 3 AsylG erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund zu bejahen.

Gegen die Annahme, dass dem Kläger ausgehend von der zu bejahenden Vorverfolgung bei seiner Rückkehr nach Pakistan wiederum mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht, spricht im vorliegenden Fall nicht, dass der Kläger legal ausgereist ist. Zwar gibt es eine Exit Control List, mit der die pakistanische Regierung die auf dieser Liste namentlich genannten Personen von der Nutzung der offiziellen Ausreisepunkte des Landes ausschließt. Personen auf der ECL ist es verboten, ins Ausland zu reisen. Diese Liste soll Personen, die in staatsfeindliche Aktivitäten und Terrorismus involviert sind oder in Verbindung zu einer verbotenen Organisation stehen bzw. jene, gegen die ein Strafverfahren vor höheren Gerichten anhängig ist, von Auslandsreisen abhalten. Regelmäßig wird die ECL allerdings als Mittel zur Kontrolle Andersdenkender eingesetzt, und laut Zivilgesellschaft befinden sich auch Menschenrechtsverteidiger. Es gibt aber keine Hinweise darauf, dass Personen, die an politischen Kundgebungen und Protestkundgebungen teilgenommen haben, auf diese Liste geraten wären [...]. Angesichts dessen ist nicht zu erwarten, dass sein Name auf der Exit Control List geführt wird. Seine ungehinderte Ausreise auf legalem Wege über den Flughafen ist somit kein Indiz dafür, dass er bei seiner Rückkehr in sein Herkunftsland nicht wieder in den Fokus der Sicherheitskräfte gelangen und asylrechtlich relevante Verfolgung erdulden müsste. Das gilt umso mehr, als zwischen dem fluchtauslösenden Ereignis und seiner Ausreise nur wenige Woche lagen.

Die Verfolgungsvermutung ist auch nicht dadurch widerlegt, weil davon auszugehen wäre, dass der Kläger bei seiner Rückkehr nach Pakistan das verfolgungsträchtige Verhalten (Teilnahme an probelutschischen Demonstrationen) einstellen würde. Vielmehr hat der Kläger sich auch in Deutschland weiter in diese Richtung betätigt und jedenfalls an drei Demonstrationen teilgenommen. [...]