EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 06.07.2023 - C-402/22 M.A. gg. Niederlande (Asylmagazin 12/2023, S. 436 f.) - asyl.net: M31816
https://www.asyl.net/rsdb/m31816
Leitsatz:

Zum Begriff der besonders schweren Straftat und der Gefahr für die Allgemeinheit:

1. Gemäß Art. 14 Abs. 4 Bst. b Qualifikationsrichtlinie [RL 2011/95/EU] können Mitgliedstaaten vorsehen, dass die aufgrund der Flüchtlingseigenschaft zuerkannte Rechtsstellung aberkannt, beendet oder deren Verlängerung abgelehnt wird, wenn die betroffene Person eine Gefahr für die Allgemeinheit darstellt, weil sie wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde [entspricht § 60 Abs. 8 S. 1 Var. 2 AufenthG bzw. § 3 Abs. 4 AsylG im deutschen Recht].

2. Art. 14 Abs. 4 Bst. b Qualifikationsrichtlinie ist restriktiv auszulegen und nur unter besonders strengen Voraussetzungen anwendbar. Die Voraussetzungen liegen nur bei einer Verurteilung wegen einer Straftat vor, die eine außerordentliche Schwere aufweist und zu den Straftaten gehört, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen.

3. Dabei kann Art. 14 Abs. 4 Bst. b Qualifikationsrichtlinie nur bei einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer Straftat angewandt werden, die für sich genommen unter den Begriff "besonders schwere Straftat" fällt. Der Schweregrad der Straftat kann sich also nicht durch verschiedene Straftaten kumulativ ergeben.

4. Aus der Verurteilung wegen einer besonders schweren Straftat kann nicht bereits auf eine Gefahr für die Allgemeinheit geschlossen werden. Die Gefahr für die Allgemeinheit ist eine weitere, davon unabhängig zu prüfende Voraussetzung gemäß Art. 14 Abs. 4 Bst. b Anerkennungsrichtlinie. Es muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit vorliegen.

(Leitsätze der Redaktion; Anmerkung der Redaktion: Es wird zu prüfen sein, ob die Regelung des § 60 Abs. 8  S. 1, S. 3 AufenthG angesichts dieses Urteils mit Art. 14 Abs. 4 Bst. b Qualifikationsrichtlinie vereinbar oder ggf. unionsrechtskonform auszulegen ist.)

Schlagwörter: Qualifikationsrichtlinie, schwere nichtpolitische Straftat, besonders schwere Straftat, Ausschlussgrund, Ausschlusstatbestand, Flüchtlingseigenschaft, gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 14 Abs. 4 Bst. b, AufenthG § 60 Abs. 8 S. 1, AsylG § 73 Abs. 2a S. 5
Auszüge:

[...]

19 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, anhand welcher Kriterien eine Straftat als "besonders schwere Straftat" im Sinne von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 angesehen werden kann. [...]

23 Zur ersten dieser Voraussetzungen ist zunächst daran zu erinnern, dass aus den Anforderungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes folgt, dass eine Bestimmung des Unionsrechts, die – wie Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 – für die Ermittlung ihrer Bedeutung und ihrer Tragweite nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweist, in der Regel in der gesamten Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten muss [...].

35 Daraus folgt, dass die Verwendung des Ausdrucks "besonders schwere Straftat" in Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 belegt, dass der Unionsgesetzgeber die Anwendung dieser Bestimmung u. a. von der Erfüllung einer besonders strengen Voraussetzung abhängig machen wollte, nämlich einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer Straftat, die eine außerordentliche Schwere aufweist, die über die Schwere von Straftaten hinausgeht, die die Anwendung von Art. 12 Abs. 2 Buchst. b oder Art. 17 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 3 dieser Richtlinie rechtfertigen können.

36 Schließlich spricht auch das wesentliche Ziel der Richtlinie 2011/95, wie es aus ihrem Art. 1 und ihrem zwölften Erwägungsgrund hervorgeht – nämlich zu gewährleisten, dass die Mitgliedstaaten gemeinsame Kriterien zur Bestimmung der Personen anwenden, die tatsächlich Schutz benötigen, und sicherzustellen, dass diesen Personen in allen Mitgliedstaaten ein Mindestniveau von Leistungen geboten wird –, für eine restriktive Auslegung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b dieser Richtlinie.

37 Nach alledem kann Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 nur auf einen Drittstaatsangehörigen angewandt werden, der wegen einer Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, die aufgrund ihrer spezifischen Merkmale insofern als Straftat, die eine außerordentliche Schwere aufweist, angesehen werden kann, als sie zu den Straftaten gehört, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen. [...]

39 Da Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 jedoch eine rechtskräftige Verurteilung wegen einer "besonders schweren Straftat" im Singular betrifft und restriktiv auszulegen ist, kann seine Anwendung nur im Fall einer rechtskräftigen Verurteilung wegen einer Straftat gerechtfertigt sein, die für sich genommen unter den Begriff "besonders schwere Straftat" fällt, was voraussetzt, dass sie den in Rn. 37 des vorliegenden Urteils genannten Schweregrad aufweist, wobei dieser Schweregrad nicht durch eine Kumulierung verschiedener Straftaten erreicht werden kann, von denen keine als solche eine besonders schwere Straftat darstellt. [...]

48 Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass eine "besonders schwere Straftat" im Sinne dieser Bestimmung eine Straftat ist, die angesichts ihrer spezifischen Merkmale insofern eine außerordentliche Schwere aufweist, als sie zu den Straftaten gehört, die die Rechtsordnung der betreffenden Gesellschaft am stärksten beeinträchtigen. Bei der Beurteilung, ob eine Straftat, derentwegen ein Drittstaatsangehöriger rechtskräftig verurteilt wurde, einen solchen Schweregrad aufweist, sind insbesondere die für diese Straftat angedrohte und die verhängte Strafe, die Art der Straftat, etwaige erschwerende oder mildernde Umstände, die Frage, ob diese Straftat vorsätzlich begangen wurde, Art und Ausmaß der durch diese Straftat verursachten Schäden sowie das Verfahren zur Ahndung der Straftat zu berücksichtigen. [...]

49 Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde.

50 Wie in Rn. 22 des vorliegenden Urteils ausgeführt, geht aus den Rn. 27 bis 42 des Urteils vom heutigen Tag, Commissaire général aux réfugiés et aux apatrides (Flüchtling, der eine schwere Straftat begangen hat) (C-8/22), hervor, dass die Anwendung von Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 von der Erfüllung zweier unterschiedlicher Voraussetzungen abhängt, nämlich zum einen, dass der betreffende Drittstaatsangehörige wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde, und zum anderen, dass festgestellt wurde, dass er eine Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält. [...]

52 Folglich ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass das Bestehen einer Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats, in dem sich der betreffende Drittstaatsangehörige aufhält, nicht schon allein deshalb als erwiesen angesehen werden kann, weil dieser wegen einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt wurde. [...]

53 Mit seiner dritten und seiner vierten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Anwendung dieser Bestimmung davon abhängt, dass die zuständige Behörde feststellt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und schwere Gefahr für die Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, und dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßige Maßnahme ist. [...]

56 Folglich ist auf die dritte und die vierte Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass die Anwendung dieser Bestimmung davon abhängt, dass die zuständige Behörde feststellt, dass der betreffende Drittstaatsangehörige eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr für ein Grundinteresse der Allgemeinheit des Mitgliedstaats darstellt, in dem er sich aufhält, und dass die Aberkennung der Flüchtlingseigenschaft eine in Bezug auf diese Gefahr verhältnismäßige Maßnahme ist. [...]