VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 31.08.2023 - 24 K 55/23 V - asyl.net: M31871
https://www.asyl.net/rsdb/m31871
Leitsatz:

Anspruch auf Berücksichtigung der Visumsanträge der Familie eines subsidiäre Schutzberechtigten:

Die schwangere Ehefrau und die vier kleinen Kinder (2, 3, 5 und 7 Jahre) haben einen Anspruch auf Berücksichtigung ihrer Visumsanträge bei einer Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 1 S. 1 AufenthG. Aufgrund des Vorliegens atypischer Umstände ist es unbeachtlich, dass die Ehe erst nach der Flucht aus dem Herkunftsland geschlossen wurde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, subsidiärer Schutz, humanitäre Gründe, familiäre Lebensgemeinschaft, Eheschließung, Nachfluchtehe, Eheschließung nach der Flucht, Trennungsdauer, Wartezeit, Kleinkind,
Normen: AufenthG § 36a Abs. 1 S. 1, AufenthG § 6 Ab. 3, AufenthG § 22
Auszüge:

[...]

20 1. Der Anspruch der Kläger auf Berücksichtigung ihrer Visumanträge bei der Auswahlentscheidung des Bundesverwaltungsamtes folgt aus § 6 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Ein weitergehender Anspruch auf Erteilung der begehrten Visa folgt hieraus indes nicht. [...]

25 Gemessen hieran sind ausreichende humanitäre Gründe hier bereits deshalb gegeben, weil insgesamt vier minderjährige ledige Kinder im Alter von zwei, drei, fünf und sieben Jahren betroffen sind (§ 36a Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG).

26 Die vom Beigeladenen vertretene Auffassung, es läge kein humanitärer Grund vor, weil bei der Beurteilung der Frage, ob ein humanitärer Grund vorliegt, auch zu berücksichtigen sei, dass gerade durch die Einreise der Kläger in das Bundesgebiet eine humanitäre Notlage (durch drohende Obdachlosigkeit) entstehe, vermag angesichts des insoweit eindeutigen und nicht auslegungsfähigen Gesetzeswortlauts nicht zu überzeugen. Der Gesetzgeber hat die Beurteilung, ob ein humanitärer Grund vorliegt, nämlich gerade nicht der Einschätzung der zuständigen Behörden überlassen, sondern vielmehr in § 36a Abs. 2 AufenthG in Form von Regelbeispielen klare tatbestandliche Voraussetzungen für das Vorliegen von humanitären Gründen definiert. Liegen – wie hier – die in einer der Nr. 1 bis 4 der genannten Norm aufgelisteten tatbestandlichen Voraussetzungen vor, so ist ein humanitärer Grund zwingend zu bejahen. [...]

29 Das Gericht folgt insoweit der ausführlichen Begründung der Auslandsvertretung in Amman, der für die Beurteilung der besonderen Gegebenheiten vor Ort eine besondere Sachkenntnis zuzusprechen ist. Zwar ist nach Ziffer 29.2.2.1 der Verwaltungsvorschriften (VwV) zum AufenthG eine Drittstaatbindung grundsätzlich zu bejahen, wenn nachzugswillige Familienangehörige mit Daueraufenthaltsrecht oder – wie hier der Fall – als anerkannte Flüchtlinge im Drittstaat leben. Auch der langjährige Aufenthalt der Kläger und des Stammberechtigten in Jordanien ist zunächst ein Indiz für eine bestehende Drittstaatbindung (vgl. zur Drittstaatbindung bei langjährigem Aufenthalt im Drittstaat z.B.: OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 11. August 2017 – OVG 3 S 55.17, EA S. 4; VG Berlin, Urteil vom 16. November 2017 – VG 12 K 294.16 V, EA S. 6 ff.). Die Auslandsvertretung in Amman hat jedoch im Visumsverfahren gegenüber dem Beigeladenen ausführlich und in der Sache überzeugend dargelegt, weshalb dies unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des syrischen Bürgerkriegs bei syrischen Flüchtlingen in Jordanien anders zu sehen ist. [...]

32 dd) Der Berücksichtigung der Visumsanträge bei der Auswahlentscheidung stehen auch keine Ausschlussgründe nach § 36a Abs. 3 AufenthG entgegen. Zwar liegt im Falle der Klägerin zu 1) ein Regelausschlussgrund gemäß § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG vor (1). Hiervon ist jedoch wegen des Vorliegens von atypischen Umständen abzusehen (2)

33 (1) Nach § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG ist die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Ehegattennachzug in der Regel ausgeschlossen, wenn die Ehe nicht bereits vor der Flucht geschlossen wurde.Die genannten Voraussetzungen liegen hier in Bezug auf die Klägerin zu 1) vor.Ihre Ehe mit dem Stammberechtigten wurde unstreitig erst nach dessen Flucht aus dem gemeinsamen Herkunftsland Syrien geschlossen, und zwar im Jahr 2014 in Jordanien (Vergleich zum Begriff der Nachfluchtehe: BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2020 – 1 C 30.19 – juris, Rn. 13 ff.). [...]

35 (2) [...] Für die Beantwortung der Frage, ob die aus Art. 6 GG folgende Pflicht zur Berücksichtigung familiärer Belange es im Einzelfall gebietet, eine Ausnahme von dem Regelausschlussgrund des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG anzunehmen, ist es von maßgeblicher Bedeutung, ob der Familie erstens eine Fortdauer der räumlichen Trennung zumutbar und ob ihr zweitens eine Wiederaufnahme der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des den Nachzug begehrenden Ehegatten möglich und zumutbar ist. Bei der Bemessung der zumutbaren Trennungsdauer der Ehegatten kommt dem Wohl eines gemeinsamen Kleinkindes besonderes Gewicht zu. Dessen Belange sind regelmäßig geeignet, die von den Ehegatten hinzunehmende Trennungszeit maßgeblich zu verkürzen. Ist den Ehegatten eine Wiederherstellung der ehelichen Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des Nachzugswilligen möglich und zumutbar, so übersteigen Wartezeiten von fünf Jahren bis zu einem Nachzug in das Bundesgebiet vorbehaltlich besonderer Umstände des Einzelfalles noch nicht das verfassungsrechtlich hinzunehmende Höchstmaß; sind die Ehegatten indes Eltern eines Kleinkindes, so kann dessen Wohl es bereits nach Ablauf einer Trennungszeit von drei Jahren gebieten, einen Ausnahmefall anzunehmen, mit der Folge, dass der Weg frei wird für eine ermessensgerechte Priorisierungs- und Auswahlentscheidung in dem nach § 36a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorgegebenen Rahmen. Scheidet die Wiederherstellung der familiären Lebensgemeinschaft in dem Aufenthaltsstaat des nachzugswilligen Ehegatten demgegenüber auf absehbare Zeit aus, gewinnen die humanitären Belange an der Wiederherstellung der Familieneinheit gerade im Bundesgebiet erhebliches Gewicht. Dies gilt jedenfalls in Fällen, in denen die Weiterreise des subsidiär schutzberechtigten Familienangehörigen nicht als Betätigung eines Willens zu einer auch dauerhaften Trennung von der Familie unter endgültiger Aufgabe von Nachzugsansprüchen zu werten oder aus den Umständen, etwa der für sich allein nicht ausschlaggebenden Ehebestandsdauer, zu folgern ist, dass eine Ehe ausschließlich zu dem Zweck geschlossen worden ist, etwaige Nachzugsmöglichkeiten zu eröffnen. Fehlt es an solchen besonderen Umständen des Einzelfalles, verringern sich mit zunehmender Trennungsdauer auch die Unterschiede zu den vor der Flucht geschlossenen Ehen und wächst das Gewicht der grundrechtlich geschützten Belange an einer – dann objektiv nur im Bundesgebiet möglichen – Familienzusammenführung. Jedenfalls bei Eheschließung vor der Einreise in das Unionsgebiet liegt ohne Hinzutreten besonderer, eine Verkürzung oder Verlängerung der Trennungszeiten bewirkender Umstände dann eine Ausnahme von dem Regelausschluss des § 36a Abs. 3 Nr. 1 AufenthG regelmäßig bereits bei einer mehr als vierjährigen Trennung von dem Ehegatten und einer mehr als zweijährigen Trennung von einem auf die Sorge beider Elternteile angewiesenen Kleinkind vor (BVerwG, Urteil vom 17. Dezember 2020, a.a.O., Rn. 36 m.w.N.).

36 Nach den dargelegten Maßstäben ist die Grenze der noch zumutbaren Trennungszeit im vorliegenden Fall unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls bereits erreicht, so dass die Voraussetzungen für eine Ausnahme vom Regelausschlussgrund vorliegen.

37 Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine sogenannte "Transitehe", die zwar nach Flucht aus dem Herkunftsstaat Syrien, aber vor Einreise des Stammberechtigten ins Unionsgebiet geschlossen wurde, so dass die vom Bundesverwaltungsgericht entwickelten Maßstäbe auf den hiesigen Fall anwendbar sind. [...]

41 Die genannten Umstände führen nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts dazu, dass regelmäßig bereits bei einer mehr als zweijährigen Trennung von einem auf die Sorge beider Elternteile angewiesenen Kleinkind eine Ausnahme vom Regelausschlussgrund vorliegt. Zwar ist die Trennungszeit von zwei Jahren hier erst am 18. September 2023 – und somit erst rund zweieinhalb Wochen nach der gerichtlichen Entscheidung – erreicht, da der Stammberechtigte Jordanien am 18. September 2021 verlassen hat. Es liegen jedoch konkrete Umstände vor, die im vorliegenden Einzelfall eine – hier im Übrigen nur sehr geringfügige – Verkürzung der Trennungszeit bewirken. Für die Verkürzung der zumutbaren Trennungszeit auf einen Zeitraum von unter zwei Jahren sprechen hier insbesondere die bereits sehr fortgeschrittene Schwangerschaft der Klägerin zu 1) sowie das zu berücksichtigende Wohl von insgesamt vier noch sehr jungen Kindern, die auf die Zuwendung ihres Vaters angewiesen sind.

42 b) Bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen eröffnet der § 36a Abs. 1 Satz 1 AufenthG auf der Rechtsfolgenseite hinsichtlich der Erteilung der begehrten Visa bzw. der Zustimmung hierzu einen Ermessensspielraum. Dieses Ermessen hat sich vorliegend allerdings in einer Weise verdichtet, dass die individuelle Ermessensbetätigung rechtmäßig nur im Sinne einer positiven Ermessensbetätigung ausgeübt werden kann und die Visumanträge dem Bundesverwaltungsamt zur Berücksichtigung in seiner Auswahlentscheidung nach § 36a Abs. 2 Satz 2 und 3 AufenthG zuzuleiten sind. [...]

52 c) Dem Gericht ist es allerdings verwehrt, die damit nach § 36a Abs. 2 Satz 2 AufenthG anstehende Auswahlentscheidung, die in der Praxis durch das Bundesverwaltungsamt erfolgt, an Stelle der Beklagten vorzunehmen.

53 Insbesondere fehlen dem Gericht die dazu notwendigen Informationen über die anderen Visumsanträge, die bei der Auswahlentscheidung ebenfalls zu berücksichtigen sind. Die gerichtliche Überprüfbarkeit ist darauf beschränkt, dass bei der Auswahlentscheidung keine sachfremden Erwägungen erfolgen und sich die Auswahlentscheidung an den gesetzlichen Vorgaben orientiert. Dabei gebietet der grundrechtliche Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG eine Gleichförmigkeit der Verwaltungspraxis des Bundesverwaltungsamtes, das heißt, das Bundesverwaltungsamt hat das Quotierungsverfahren nach den Regeln vorzunehmen, zu deren Etablierung es durch den Gesetzgeber bei der Schaffung des § 36a AufenthG verpflichtet worden ist, und die Auswahl "anhand eines durch Kriterien gesteuerten Verfahrens" zu treffen (zum Ganzen VG Berlin, Urteil vom 7. Januar 202, a.a.O., Rn. 43 m.w.N.). [...]