Systemische Mängel wegen drohender Inhaftierung in Lettland:
Das lettische Asylverfahren weist systemische Mängel gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-III-VO auf, weil Schutzsuchende, auch Dublin-Rückkehrende, damit rechnen müssen, ohne individuelle Prüfung von Haftgründen für die Dauer ihres Asylverfahrens in geschlossenen Einrichtungen inhaftiert zu werden und ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden in diesen Einrichtungen nicht angemessen gesichert sind. Das gilt insbesondere für Kinder, denen in Lettland ebenfalls Inhaftierung droht.
(Leitsätze der Redaktion)
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Systemische Mängel des lettischen Asylverfahrens ergeben sich daraus, dass Asylantragsteller einschließlich Dublin-Rückkehrern in Lettland damit rechnen müssen, ohne individualisierte Prüfung von Haftgründen für die Dauer ihres Asylverfahrens in geschlossenen Einrichtungen inhaftiert zu werden, in denen ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden nicht angemessen gesichert sind.
Sowohl das Verfahren und die Anwendung der Voraussetzungen für die Inhaftnahme von Asylsuchenden durch die lettischen Behörden und Gerichte als auch der Haftvollzug stehen nicht im Einklang mit Unionsrecht und begründen in ihrer Gesamtheit nach summarischer Prüfung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC. Nach Art. 8 der Richtlinie 2013/33/EU [...] (Aufnahmerichtlinie), darf Haft nicht allein wegen der Beantragung internationalen Schutzes, sondern nur auf der Grundlage einer Einzelfallprüfung aus bestimmten Haftgründen, darunter auch Fluchtgefahr (Art. 8 Abs. 3 Buchst, b), angeordnet werden, wenn dies erforderlich und keine weniger einschneidende Maßnahme wirksam ist. Diese Regelung steht nach Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats entgegen, nach denen ein Asylbewerber in Haft genommen werden kann, nur, weil er sich illegal im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats aufhält [...]. Nach Art. 9 Abs. 1 der Aufnahmerichtlinie wird ein Antragsteller zudem für den kürzestmöglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen, wie die in Artikel 8 Absatz 3 genannten Gründe gegeben sind. Nach Art. 21 der Aufnahmerichtlinie berücksichtigen die Mitgliedstaaten in dem einzelstaatlichen Recht zur Umsetzung dieser Richtlinie die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie insbesondere Minderjährigen. Minderjährige dürfen nach Art. 11 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie nur im äußersten Falle in Haft genommen werden, und nachdem festgestellt worden ist, dass weniger einschneidende alternative Maßnahmen nicht wirksam angewandt werden können. [...]
In Lettland existieren zwei spezielle Hafteinrichtungen für ausländische Staatsangehörige, nämlich das Daugavpils Immigration Detention Centre und das Mucenieki Immigration Detention Centre. Beide Zentren werden vom Staatlichen Grenzschutz verwaltet, der dem Innenministerium unterstellt ist. [...]
Nach § 54 Abs. 1 des Zuwanderungsgesetzes kann ein Ausländer, der abgeschoben werden soll oder aufgrund eines Rückübernahmeabkommens zurückkehren muss, vom staatlichen Grenzschutz eigenmächtig bis zu zehn Tage in Haft genommen werden, wenn Grund zu der Annahme besteht, dass der Betroffene das Abschiebungsverfahren vermeiden oder behindern will oder wenn Fluchtgefahr besteht. Eine Inhaftierung über zehn Tage hinaus muss von einem Gericht genehmigt werden, das die Haftdauer auf bis zu zwei Monate verlängern kann (§ 54 Absatz 2). [...]
Das lettische Recht sieht mithin zwar eine Einzelfallprüfung von Haftgründen vor. Es bestehen jedoch erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass lettische Gerichte nicht entsprechend der Vorgaben in Art. 13 und Art. 16 des lettischen Asylgesetzes eine individualisierte Prüfung der Haftgründe sowie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Einzelfall durchführen.
So trugen die Kläger vor, dass im Vorfeld des Erlasses des Haftbeschlusses durch das Gericht Daugavpils zwar eine mündliche Verhandlung stattgefunden habe, der sie per Videokonferenz zugeschaltet gewesen seien, dass sie darin aber nicht zu Wort gekommen seien. Dafür, dass dies tatsächlich der Fall war, spricht, dass die vorgelegten Haftbeschlüsse in lettischer Sprache (ausweislich der Übersetzung mit DeepL-Übersetzer) keine Äußerungen der Antragsteller zur Frage der Inhaftierung enthalten. Dass das Vorbringen von Asylbewerbern von lettischen Gerichten nicht hinreichend gewürdigt wird, ermittelte auch Amnesty International. Befragte Asylsuchende gaben der NGO gegenüber an, dass die Richter bei Gerichtsverhandlungen ihre Behauptungen, sie hätten Gewalt erlitten oder seien gezwungen worden, Dokumente zu unterschreiben, die sie nicht unterschreiben wollten oder nicht verstanden hätten, ignoriert oder abgewiesen hätten (Amnesty International, Latvia: Return home or never leave the woods, 12.10.2022, 8. 7). Einer der Befragten berichtete, dass die lettischen Behörden ihm im Rahmen von Gerichtsverhandlungen, in denen über die Verlängerung seiner Haft entschieden worden sei, keine wirksame Beteiligung ermöglicht hätten. Er habe den Eindruck gehabt, dass das Ergebnis der Entscheidung, seine Haft um zwei Monate zu verlängern, bereits vor der Anhörung festgestanden habe. [...]
Neben der ausbleibenden Würdigung des jeweiligen Vortrags der Asylsuchenden begründen die lettischen Gerichte die Inhaftnahme ferner offenbar häufig nur mit pauschalen Annahmen. [...]
Gegen eine Inhaftierung aufgrund einer unzureichenden Prüfung von Haftgründen und Verhältnismäßigkeit können sich Asylbewerber in Lettland zudem nicht effektiv mit Rechtsmitteln zur Wehr setzen. [...]
Den Antragstellern droht in Lettland erneute Inhaftierung, ungeachtet der besonderen Schutzbedürftigkeit des minderjährigen Antragstellers zu 4) und auch trotz ihres zwischenzeitlichen Aufenthalts in Deutschland bzw. einer (legalen) Wiedereinreise im Rahmen des Dublin-Verfahrens. Denn die Anknüpfungspunkte für die Inhaftierung der Antragsteller von Dezember 2022 bis Februar 2023 waren zum einen ihre mangels gültigen Visums illegale Einreise nach Lettland im Dezember 2022 und zum anderen die vom Gericht Daugavpils angenommene Fluchtgefahr. Beide Umstände bestehen nach wie vor, denn durch die - ebenfalls illegale - Weiterreise nach Deutschland und ihre Rückführung nach Lettland wird ihr ehemals illegaler Aufenthalt nicht nachträglich legalisiert, sondern lediglich der vorder Weiterreise bestehende Zustand wiederhergestellt (ebenso zu Litauen: VG Hannover, Beschluss vom 25.08.2022 - 12 B 6475/21 -, Juris Rn. 14). Durch ihre Ausreise nach Deutschland während des laufenden Asylverfahrens dürften die Antragsteller zudem die Einschätzung des lettischen Gerichts, es bestehe Fluchtgefahr, bestätigt haben. [...]
Die Haftbedingungen in den Hafteinrichtungen für ausländische Staatsangehörige in Lettland lassen indes zum Teil erhebliche Mängel erkennen. Diese bestehen insbesondere in unzureichender Belüftung der Haftanstalten, fraglicher Einhaltung der Möglichkeiten zur Bewegung im Freien, der Beschränkung der Kontaktaufnahme von Asylbewerbern nach außen bzw. des Zugangs von NGOs und Rechtsbeiständen zu den Einrichtungen und der nicht kindgerechten Unterbringung minderjähriger Asylbewerber. [...]
Nach Art. 3 EMRK hat der Staat dafür zu sorgen, dass die Haftbedingungen eines Asylbewerbers mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind, dass die Art und Weise des Vollzugs der Maßnahme die Gefangenen keinem Leid oder keiner Härte aussetzt, die über das unvermeidliche Maß an Leiden, das mit der Haft verbunden ist, hinausgeht, und dass ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden in Anbetracht der praktischen Erfordernisse der Haft angemessen gesichert sind [...].
In Fällen, in denen Inhaftierte über einen ausreichenden persönlichen Freiraum, d. h. regelmäßig mindestens 3 bis 4 m^ pro Person, verfügen, sind andere Aspekte der physischen Haftbedingungen für die Beurteilung der Einhaltung des Art. 3 EMRK von Bedeutung. Dazu gehören insbesondere der Zugang zu Bewegung im Freien, natürliches Licht oder natürliche Luft, die Verfügbarkeit von Belüftung, angemessene Heizungseinrichtungen, die Möglichkeit, die Toilette privat zu benutzen, und die Einhaltung der grundlegenden sanitären und hygienischen Anforderungen [...]. Grundlegend für den Schutz des Wohlbefindens der Gefangenen ist, dass ausnahmslos allen Gefangenen täglich mindestens eine Stunde Bewegung an der frischen Luft zugestanden wird, vorzugsweise im Rahmen eines umfassenderen Programms von Aktivitäten außerhalb der Zelle [...].
Auch nach Art. 10 Abs. 2 der Aufnahmerichtlinie müssen in Haft genommene Antragsteller die Möglichkeit haben, sich an der frischen Luft aufzuhalten. Die Mitgliedstaaten tragen nach Art. 10 Abs. 4 der Aufnahmerichtlinie dafür Sorge, dass Familienangehörige, Rechtsbeistand oder Berater und Personen, die von dem betreffenden Mitgliedstaat anerkannte einschlägig tätige Nichtregierungsorganisationen vertreten, unter Bedingungen, die den Schutz der Privatsphäre garantieren, mit Antragstellern Verbindung aufnehmen und sie besuchen können. [...]
Die beschriebenen Anforderungen werden weder im Daugavpils Immigration Detention Centre noch im Mucenieki Immigration Detention Centre hinreichend zuverlässig gewahrt.
Eine Delegation des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (CPT) besuchte im Mai 2022 mehrere Hafleinrichtungen in Lettland. Während des Besuch des CPT entsprachen sowohl in Daugavpils als auch in Mucenieki die materiellen Bedingungen in den Wohneinheiten im Allgemeinen einem guten Standard. [...]
Dem widerspricht die Darstellung ihrer Haftbedingungen durch die Antragsteller. Diese berichteten, sofern es in Daugavpils Gemeinschaftsräume gegeben hätte, seien diese jedenfalls verschlossen und für die Inhaftierten nicht zugänglich gewesen. In Mucenieki habe es lediglich einen Raum mit einem Fernseher gegeben, der jedoch stets überfüllt gewesen sei. Auch hätten sie die Fenster der Einrichtung in Daugavpils nur mit Einwilligung der Aufseher und in Mucenieki überhaupt nicht öffnen dürfen. Diese Darstellung der Antragsteller stimmt indes überein mit zahlreichen dokumentierten Beschwerden von Inhaftierten bei dem lettischen Ombudsmann über die unzureichende Belüftung der Haftanstalten im September 2022 [...].
Das CPT stellte bei seinem Besuch im Mai 2022 ferner fest, dass die internen Regeln für Unterbringungseinrichtungen für inhaftierte Ausländer und Asylbewerber vorsahen, dass inhaftierte ausländische Staatsangehörige Anspruch auf mindestens zwei Stunden Bewegung im Freien pro Tag haben. [...] Was die Gewährung von Freigang an der frischen Luft angeht, so existieren nach Kenntnis der Einzelrichterin neben dem GPT-Bericht keine zuverlässigen und aktuellen Erkenntnismittel. Ärzte ohne Grenzen erwähnte in einem Bericht lediglich, dass ein Junge in einem der geschlossenen Aufnahmezentren ihnen mitgeteilt habe, dass er nur wenige Augenblicke am Tag in dem umzäunten Außenbereich spielen dürfe und dass die Aufseher die Minuten zählten [...]. Aufgrund dessen sieht die Einzelrichterin es zumindest als offen an, ob die Vorgabe des Europäischen Gerichtshofs, ausnahmslos allen Gefangenen müsse täglich mindestens eine Stunde Bewegung an der frischen Luft zugestanden werden, in den Hafteinrichtungen für Ausländer in Lettland zuverlässig eingehalten wird.
Dagegen bestehen erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass Asylsuchende in den lettischen Hafteinrichtungen in einer Art und Weise überwacht und zugleich von der Außenwelt und damit von notwendigen Dienstleistungen wie medizinischer und rechtlicher Betreuung isoliert werden, die gegen die Vorgaben der Aufnahmerichtlinie verstößt.
Ärzte ohne Grenzen appellierte im November 2022 an die lettischen Behörden, die rechtswidrige und willkürliche Inhaftierung von Migranten und Asylbewerbern in Lettland unverzüglich zu beenden, weil diese schwerwiegende Folgen für deren psychische und physische Gesundheit habe. Sowohl die Zentren in Mucenieki als auch in Daugavpils würden stark videoüberwacht, was die Privatsphäre der Menschen erheblich einschränke. [...]
Die Isolation der Asylsuchenden beschränkt jedoch nicht nur ihren Zugang zu NGOs und medizinischer sowie psychologischer Betreuung, sondern auch zu einem Rechtsbeistand. [...]
Schließlich sind die Haftbedingungen in den beiden geschlossenen Einrichtungen für Ausländer in Lettland jedenfalls dem nur 12-jährigen Antragsteller zu 4) nicht zumutbar. Ärzte ohne Grenzen berichtete während seiner Tätigkeit in den lettischen Hafteinrichtungen, dass die Kinder, die dort in Gewahrsam gehalten würden, in ihrer psychischen Entwicklung ernsthaft gefährdet seien und oft Anzeichen einer schweren Beeinträchtigung zeigten. [...]