Voraussetzungen einer wirksamen Verlängerung der Überstellungsfrist
Für eine Verlängerung der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO auf höchstens achtzehn Monate genügt es, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt (Rn. 28 – 32).
(Amtliche Leitsätze)
[...]
30 Nach Art. 9 Abs. 2 Satz 1 der Durchführungsverordnung (EU) Nr. 118/2014 der Kommission vom 30. Januar 2014 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 mit Durchführungsbestimmungen zur Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (Abl. L 2014, S. 39/1 - DurchführungsVO) unterrichtet ein Mitgliedstaat, der aus einem der in Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO genannten Gründe die Überstellung nicht innerhalb der üblichen Frist von sechs Monaten ab dem Zeitpunkt der Annahme des Gesuchs um Aufnahme oder Wiederaufnahme der betroffenen Person oder der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese aufschiebende Wirkung hat, vornehmen kann, den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf dieser Frist. Ansonsten fallen nach Art. 9 Abs. 2 Satz 2 DurchführungsVO die Zuständigkeit für die Behandlung des Antrags auf internationalen Schutz bzw. die sonstigen Verpflichtungen aus der Dublin III-VO gemäß Art. 29 Abs. 2 der Dublin III-VO dem ersuchenden Mitgliedstaat zu.
31 Die Rechtsfrage, ob es neben der Information des ersuchten Mitgliedstaats über das Flüchtigsein auch einer ausdrücklichen Festlegung der verlängerten Überstellungsfrist bedarf, war bislang nicht obergerichtlich oder höchstrichterlich geklärt. Umstritten war in der Literatur, ob insoweit im Hinblick auf Art. 9 Abs. 2 DurchführungsVO die bloße Unterrichtung des ersuchten Mitgliedstaates ausreicht (so Filzwieser/Sprung, Dublin III-Verordnung, Stand 1.2.2014, Art. 29 K13) oder ob es mit Blick auf Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO einer ausdrücklichen (so Funke-Kaiser in GK-Asyl, Stand Nov. 2013, § 27a AsylG, Rn. 232; Bruns in Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 27a AsylVfG/AsylG Rn. 66; Marx, AsylG, 10. Aufl. 2019, § 29 Rn. 83) oder zumindest einer stillschweigenden (so Hailbronner, AuslR, Stand Dezember 2016, § 29 AsylG Rn. 56) Vereinbarung zwischen den Mitgliedstaaten bedarf.
32 Mit Beschluss vom 15. März 2017 hat der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Az. A 11 S 2151/16 - juris) dem Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 AEUV zur Vorabentscheidung u.a. die Frage vorgelegt, ob Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO dahin auszulegen ist, dass eine Verlängerung der Überstellungsfrist allein dadurch zustande kommt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der Sechsmonatsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich eine konkrete Frist benennt, die achtzehn Monate nicht übersteigen darf, bis zu der die Überstellung durchgeführt werden wird, oder ob eine Verlängerung der Sechsmonatsfrist nur in der Weise möglich ist, dass die beteiligten Mitgliedstaaten einvernehmlich eine verlängerte Frist festlegen. Der Generalanwalt am Gerichtshof der Europäischen Union kam in seinen Schlussanträgen vom 25. Juli 2018 zu dem Ergebnis, dass Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO und Art. 9 Abs. 2 DurchführungsVO dahingehend auszulegen sind, dass eine Verlängerung der Überstellungsfrist allein dadurch zustande kommt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der Sechsmonatsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich eine konkrete Frist benennt, die achtzehn Monate nicht übersteigen darf, bis zu der die Überstellung durchgeführt werden wird. In seinem Urteil vom 19. März 2019 kam der Gerichtshof der Europäischen Union ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO dahin auszulegen ist, dass es für eine Verlängerung der Überstellungsfrist höchstens auf achtzehn Monate genügt, dass der ersuchende Mitgliedstaat vor Ablauf der sechsmonatigen Überstellungsfrist den zuständigen Mitgliedstaat darüber informiert, dass die betreffende Person flüchtig ist, und zugleich die neue Überstellungsfrist benennt (Rs. C-163/17 <Jawo> - juris Rn. 75, Tenor Nr. 2; vgl. auch VGH BW, U.v. 29.7.2019 - A 4 S 749/19 - juris Rn. 122).
33 4. Eine ausdrückliche Mitteilung der neuen, maximal 18 Monate umfassenden Überstellungsfrist konnte auch nicht wegen einer vom Bundesamt mit den kroatischen Behörden geübten Verwaltungspraxis unterbleiben.
34 Schon nach dem Wortlaut des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO besteht kein Raum für eine von den dort für eine Fristverlängerung geregelten Modalitäten abweichende Verwaltungspraxis. Für den Fall des Flüchtigseins sieht Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO vor, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist auf höchstens achtzehn Monate verlängert werden kann. Ergänzend sieht Art. 9 Abs. 2 Satz 1 DurchführungsVO vor, dass ein Mitgliedstaat, der aus einem der in Art. 29 Absatz 2 Dublin III-VO genannten Gründe die Überstellung nicht innerhalb der üblichen Sechsmonatsfrist vornehmen kann, den zuständigen Mitgliedstaat darüber vor Ablauf dieser Frist unterrichtet. Es bedarf also sowohl der Mitteilung, dass die zu überstellende Person flüchtig ist, als auch der Bestimmung der neuen, maximal achtzehn Monate umfassenden Frist. Die von der Beklagten angeführte Verwaltungspraxis würde im Ergebnis dazu führen, dass allein die Mitteilung des Flüchtigseins zu einer Verlängerung der Überstellungsfrist auf die maximal möglichen achtzehn Monate führen würde. Dies würde aber ignorieren, dass nach der geltenden Fassung des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO mit dem Vorliegen des Tatbestands des Flüchtigseins gerade keine ipso jure eintretende Fristverlängerung auf achtzehn Monate erfolgt, sondern diese eine konstitutive, sowohl das "Ob" als auch die Länge der Fristverlängerung umfassende ausdrückliche Entscheidung des ersuchenden Mitgliedstaats im Einzelfall voraussetzt. Diese Entscheidung kann aber nicht durch eine bloße Verwaltungspraxis ersetzt werden, zumal die Fristenregelungen zugunsten der betroffenen Asylbewerber ein subjektives Recht beinhalten und auch unter diesem Gesichtspunkt eine ausdrückliche Benennung der verlängerten Überstellungsfrist aus Gründen der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit geboten ist. [...]