Flüchtlingsanerkennung für Frau aus Afghanistan:
Es droht Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen ohne männlichen Schutz, die längere Zeit im (westlichen) Ausland gelebt haben. Gefahrerhöhend kommt hinzu, dass sie der diskriminierten Volksgruppe der Hazara angehört und Schiitin ist.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Hieran gemessen hat die Klägerin Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Ihr droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine relevante Verfolgung gem. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG.
Es kann dahinstehen, ob die Klägerin ihr Herkunftsland vorverfolgt verlassen hat, da zur Überzeugung der Einzelrichterin Nachfluchtgründe gegeben sind. Ihr droht im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan - mit ihrem besonderen individuellen Risiko- und Gefährdungsprofil - mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine geschlechtsspezifische Verfolgung gem. § 3 Abs. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu der sozialen Gruppe alleinstehender afghanischer Frauen, die über keinen männlichen Schutz verfügen und längere Zeit im (westlichen) Ausland gelebt haben. [...]
Für die (hypothetische) Rückkehrprognose ist davon auszugehen, dass die unverheiratete, volljährige Klägerin allein nach Afghanistan zurückkehren würde. Es ist nicht davon auszugehen, dass ihre Familie - bestehend aus ihren Eltern und mehreren Geschwistern -, die sich derzeit ebenfalls in Deutschland aufhält, sie begleiten würde. Ihr Vater befindet sich nach den Angaben der Klägerin, die die Einzelrichterin nicht in Zweifel zieht, derzeit nach einem Schlaganfall in einem Pflegeheim. Im Rahmen einer realitätsnahen Rückkehrprognose kann des Weiteren bei erwachsenen Geschwistern nicht angenommen werden, dass die Rückkehr gemeinschaftlich erfolgt [...], zumal die Klägerin und ihre Geschwister nicht in einem gemeinsamen Haushalt leben. Auch das Bundesamt ist davon ausgegangen, dass die Klägerin als alleinstehende Frau nach Afghanistan zurückkehren müsste [...].
Bei der Klägerin handelt es sich um eine junge, alleinstehende Frau "im heiratsfähigen Alter", die in Afghanistan über keine nahen (männlichen) Verwandten mehr verfügt. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass sie ihr Heimatland bereits mit ca. elf oder zwölf Jahren verlassen hat. Die prägenden Jahre ihrer Adoleszenz verbrachte sie im Iran und anschließend in verschiedenen europäischen Ländern (Griechenland und Deutschland). Daher ist nicht davon auszugehen, dass sie mit den für Afghanistan typischen Lebensverhältnissen und insbesondere mit dem derzeitigen streng islamisch-konservativen Rollenverständnis unter den Taliban besonders vertraut ist. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat die Einzelrichterin zudem den Eindruck gewonnen, dass die Klägerin, die sich seit Ende Februar 2020 im Bundesgebiet aufhält, bereits gut in die deutsche Gesellschaft integriert hat. Sie beherrscht die deutsche Sprache gut, so dass sie sich zum Teil auch ohne die Dolmetscherin mit der Einzelrichterin unterhalten konnte. Derzeit setzt sie die in Afghanistan und im Iran begonnene Schulausbildung fort. Sie berichtete, die mittlere Reife machen und Krankenschwester werden zu wollen. Obwohl sie nach dem Eindruck der Einzelrichterin eine eher zurückhaltende Persönlichkeit besitzt und angab, nicht viele Freunde zu haben, nimmt sie aktiv am gesellschaftlichen Leben teil. So berichtete sie glaubhaft, mit anderen Personen .... Besonders hervorzuheben ist auch, dass sie eine selbstständige junge Frau ist, die derzeit in der Jugendhilfe allein eine eigene Wohnung bezieht sowie sich in Griechenland von ihrer Familie trennte und sich einer anderen afghanischen Familie, die sie dort kennenlernte, anschloss, um nach Deutschland zu weiterzureisen. Die Frage, ob sie sich aktuell ein Leben in Afghanistan vorstellen könne, hat sie entschieden unter Bezugnahme auf die derzeitige Situation und ihre dargelegten Fluchtgründe verneint. Angesichts der glaubhaften Schilderungen der Klägerin zu ihren Lebensverhältnissen in Deutschland ist die Einzelrichterin überzeugt, dass sie nicht dazu in der Lage wäre, sich einem dem traditionellen strengen Sitten- und Rollenbild von Frauen in Afghanistan angepassten Lebensstil, wie er derzeit Frauen in Afghanistan abverlangt wird, zu unterwerfen. Die selbständige, "westlich geprägte" Lebensweise, wie sie der Klägerin zu eigen ist, würden in Anbetracht der dargelegten derzeitigen Situation in Afghanistan in der dortigen Gesellschaft auf Ablehnung stoßen und erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen. Frauen können, wenn sie außerhalb des Hauses arbeiten, am öffentlichen Leben teilnehmen oder eine höhere Bildung haben, im traditionellen afghanischen Verständnis als "verwestlicht" angesehen werden. Derart wahrgenommene Frauen verstoßen nach traditionellem Verständnis gegen kulturelle, soziale und religiöse Normen. Ähnliches gilt für allein lebende Frauen, die in den Verdacht "unangemessenen Verhaltens" geraten und so "moralischer Verbrechen" beschuldigt werden können (vgl. VG Bremen, Urteil vom 17.02.2023 - 3 K 2741/19 -, juris m.w.N.; VG Wiesbaden, Urteil vom 17.11.2022 - 4 K 3363/17.WI.A -, juris). Auf einen männlichen Schutz könnte die Klägerin in Afghanistan nicht zurückgreifen. Zudem wäre sie - auch in Anbetracht der fehlenden Zumutbarkeit eines solchermaßen angepassten Sozialverhaltens - in Afghanistan jeder persönlichen Zukunftsperspektive beraubt.
Gefahrerhöhend kommt hinzu, dass sie der besonders diskriminierten Volksgruppe der Hazara angehört und gleichzeitig als Schiitin ebenfalls Mitglied einer religiösen Minderheit in Afghanistan ist [...].