Flüchtlingsanerkennung für Person aus dem Iran wegen exilpolitischen Engagements:
1. Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit politischer Verfolgung im Iran besteht nicht (mehr) nur dann, wenn die betroffene Person in exponierter Stellung besonders nachhaltig regimefeindlich in der Öffentlichkeit aufgetreten ist. Für die Frage einer beachtlichen Verfolgungsgefahr bei Rückkehr bleibt allerdings maßgeblich, ob die Aktivitäten der schutzsuchenden Person diese aus der Masse der mit dem Regime Unzufriedenen herausheben und sie als ernsthafte Regimegegnerin erscheinen lassen. Bedeutung kommt dabei insbesondere dem Ausmaß und Art der Aktivitäten vor der Ausreise aus Iran, der Inhalt und Umfang der Tätigkeiten im Ausland und der zu erwartende Grad der Aktivitäten bei Rückkehr nach Iran zu.
2. Einer Person, die als Mitglied einer politischen Organisation für die Rechte der Frauen im Iran eintritt, in sozialen Medien regimekritisch aktiv ist und die wiederholt an Demonstrationen in deutschen Städten teilgenommen hat, dabei prominent in der ersten Reihe hinter Spruchbändern stand und u.A. deshalb aus der Menge der Demonstrierenden hervorsticht, sowie dem staatlichen Auslandssender "Voice of America" ein regimekritisches Interview gegeben hat, droht im Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
24 a) Das Gericht entnimmt den eingeführten Erkenntnisquellen, dass eine (exil-)oppositionelle Betätigung für iranische Staatsangehörige ein nicht bloß unerhebliches Gefährdungspotential birgt, das sich (jedenfalls) im Einzelfall zu einer nach §§ 3 ff. AsylG relevanten Verfolgung verdichten kann.
25 Nach den Angaben des Auswärtigen Amtes (im Folgenden "AA") in seinem Lagebericht aus November 2022 wird in Iran gegen Regimekritiker und Aktivisten unerbittlich vorgegangen. Das AA führt hierzu u.a. aus, dass es regelmäßig zu "ungeklärten" Todesfällen in Gefängnissen komme [...]. Jede Person, die öffentlich Kritik an Missständen übe oder sich für Menschenrechtsthemen engagiere, setze sich der Gefahr einer strafrechtlichen Verfolgung aus [...]. Die Strafverfolgungs- und Strafzumessungspraxis sei geprägt von Korruption und Willkür, besonders bei politischen Fällen; dort erfolge sie auch bei niedrigschwelliger Kritik oftmals willkürlich und selektiv [...].
26 Zu im Ausland lebenden iranischen Staatsangehörigen, die sich öffentlich regimekritisch äußerten, gibt das AA in seinem Lagebericht aus November 2022 ferner an, dass diese von Repressionen bedroht seien [...]. Diese gegenüber früheren Erkenntnissen (vgl. noch den Lagebericht v. 12.1.2019 [2019/1], S. 18: "bedroht sein können") verschärft dargestellte Bedrohungslage hat das AA auf eine Anfrage des Verwaltungsgerichts Oldenburg ausdrücklich bestätigt und mit einer Zunahme der Repressionen gegen im Exil lebende Iraner begründet [...] sowie damit, dass vermehrt Festnahmen und Verhaftungen von zurückgekehrten Iranern beobachtet worden seien [...]
27 Ausgehend von dieser Erkenntnislage, wonach alle oppositionellen Aktivitäten dem iranischen Regime bekannt werden, setzt die Annahme einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht (mehr) voraus, dass der Betreffende in exponierter Stellung besonders nachhaltig als Regimefeind in die Öffentlichkeit getreten ist. Für die Frage einer beachtlichen Verfolgungsgefahr bei Rückkehr bleibt allerdings maßgeblich, ob die Aktivitäten den jeweiligen Asylsuchenden aus der Masse der mit dem Regime in Teheran Unzufriedenen herausheben und ihn als ernsthaften (und gefährlichen) Regimegegner erscheinen lassen (OVG Schleswig, Urt. v. 24.3.2020, 2 LB 18/19, juris Rn. 39 m.w.N.). Hiervon ausgehend ist auch bei einer abgeschwächten Form exponierter oppositioneller Aktivitäten eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit möglich. Ob eine solche vorliegt, richtet sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalles. Entscheidend ist, ob das Mitglied, der Anhänger oder Sympathisant in die Öffentlichkeit getreten ist und wegen der von ihm ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates anzunehmen ist [...]. Bedeutung kann dabei in einer Gesamtschau insbesondere dem Ausmaß und der Art der Aktivitäten vor der Ausreise aus Iran, dem Inhalt und Umfang der Tätigkeiten im Ausland und dem (erwarteten) Grad der Aktivitäten nach Rückkehr nach Iran zukommen.
28 b) Der Berichterstatter geht im vorliegenden Einzelfall der Klägerin aufgrund einer Gesamtschau insbesondere der folgenden Umstände von einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit aus:
29 Nach der informatorischen Anhörung der Klägerin sowie dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist der Berichterstatter davon überzeugt (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO), dass die Klägerin in die Öffentlichkeit getreten ist und wegen der von ihr ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates anzunehmen ist. So hat sich die Klägerin wiederholt an Demonstrationen in Hamburg, Berlin und Frankfurt beteiligt. Diese fanden an für das Herkunftsland wichtigen Orten (etwa iranisches Generalkonsulat in Hamburg und Frankfurt am Main), an stark frequentierten Plätzen (Mönckebergstraße und Gänsemarkt in Hamburg) oder an sonstigen bedeutenden Stätten (Schloss Bellevue bzw. Großer Stern/Siegessäule in Berlin) statt. [...] Die Klägerin konnte auf diesen Fotos ohne Weiteres vom Berichterstatter identifiziert werden, da sie überwiegend prominent in der ersten Reihe hinter den Spruchbändern bzw. den vorrevolutionären iranischen Flaggen stand und damit aus der Menge der Demonstranten hervorsticht. Hervorzuheben ist, dass die Klägerin vor dem Generalkonsulat in Frankfurt im ... 2022 mit einer Puppe posierte, die nach ihren Angaben den Revolutionsführer Ali Chamenei darstellen soll (Bl. 50 und 68 d.A.). Diese Puppe ist mit einem Galgen und einem Strick versehen, dabei handelt es sich um Requisiten, die die Klägerin und ihre Mitstreiter mitgebracht haben und die auch auf weiteren Fotos in Hamburg zu sehen sind. [...] Der Berichterstatter geht – in Übereinstimmung mit der vorbenannten Quellenlage – davon aus, dass das Engagement der Klägerin von dem iranischen Regime nahestehenden Personen wahrgenommen werden. Dafür spricht auch, dass die Klägerin in farsisprachigen Nachrichtenbeiträgen identifizierbar aufgetreten ist und sogar am Todestag von Ruhollah Chomeini ein regimekritisches Interview mit "Voice of America", dem offiziellen staatlichen Auslandssender der USA, geführt hat. [...]
30 Als Motivation für ihre Demonstrationsteilnahme gab die Klägerin an, sie wolle für die Rechte der Frauen in Iran eintreten. Seit dem Frühjahr 2022 sei sie in Hamburg politisch aktiv, sie ist Mitglied des C.-Verbands, wo sie in der Kommission für Frauen aktiv sei. [...]
31 Die Klägerin ist ferner in den sozialen Netzwerken regimekritisch aktiv. [...]