Ipso Facto-Flüchtlingsschutz für Palästinenserin aus dem Libanon:
1. Für die Beurteilung, ob der Schutz des UNRWA gemäß § 3 Abs. 3 S. 2 Asylgesetz weggefallen ist, sind die Umstände des Einzelfalls sowohl zum Zeitpunkt der Ausreise als auch zum Zeitpunkt der behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung zu berücksichtigen. Ausreichend ist danach auch, wenn der Schutz oder Beistand des UNRWA erst zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr gewährt wird, auch wenn sie zum Zeitpunkt der Ausreise noch gewährleistet waren.
2. Die freiwillige Ausreise und die damit verbundene Aufgabe eines zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Schutzes und Beistands durch UNRWA begründet auch keine "Sperrwirkung" dergestalt, dass die Zuerkennung der ipso facto-Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 3 S. 2 AsylG ausgeschlossen wäre.
3. Zwar kann die Klägerin zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erwarten, sich insofern in Sicherheit im Einsatzgebiet von UNRWA im Libanon aufzuhalten, als ihr dort weder Verfolgung noch ein ernsthafter Schaden drohen. Allerdings drohen ihr menschenunwürdige Lebensbedingungen, da sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein wird, angesichts der gegenwärtigen schweren Versorgungskrise im Libanon gemeinsam mit ihrem Ehemann das absolute Existenzminimum an Ernährung und Trinkwasser für sich und ihre minderjährigen Kinder zu sichern.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 03.03.2022 - C-349/20 - NB, AB gegen Vereinigtes Königreich - asyl.net: M30471; anderer Ansicht: VG Berlin, Urteil vom 27.04.2023 - 34 K 69/21 A - gesetze.berlin.de; siehe auch: VG Köln, Urteil vom 08.10.2021 - 20 K 3644/16.A - justiz.nrw.de)
[...]
Der Rücknahmebescheid des Bundesamtes vom 29. September 2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO), weil sie nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (vgl. § 77 Abs. 1 Satz 1 HS 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der ipso facto-Flüchtlingseigenschaft im Sinne von § 3 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 Satz 2 AsylG hat.
Aufgrund dessen ist der Bescheid vom 4. März 2016, mit dem der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden ist, rechtmäßig. [...]
Eine Rücknahme des Bescheides vom 4. März 2016 auf der Grundlage von § 73 Abs. 1 AsylG oder § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) scheidet angesichts der Rechtmäßigkeit des Bescheides aus. [...]
Die Voraussetzungen für einen Widerruf auf der Grundlage von § 73 Abs. 1 AsylG liegen ersichtlich nicht vor. [...]
1. Gemäß § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 AsylG ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach Absatz 1 dieser Vorschrift, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Art. 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK) genießt (sogenannte Ausschlussklausel). Das UNRWA fällt in den Anwendungsbereich dieser Bestimmung (vgl. BVerwG, Urteil vom 27. April 2021- 1 C 2.21 -, juris Rn. 12; Urteil vom 25. April 2019 - 1 C 28.18 -, juris Rn. 18).
Nach § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG gilt dieser Ausschluss nicht, wenn dem Ausländer ein solcher Schutz oder Beistand nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist. In diesem Fall genießt der Betroffene gemäß Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU) ipso facto den Schutz der Richtlinie und ist damit als Flüchtling anzuerkennen, ohne notwendigerweise nachweisen zu müssen, dass er bis zu dem Zeitpunkt, zu dem er in der Lage ist, in das Gebiet zurückzukehren, in dem er seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2011/95/EU hat [...].
Der Schutz oder Beistand fällt nicht nur dann weg, wenn die Organisation oder Institution, die ihn gewährt hat, entweder aufgelöst wird oder ihre Tätigkeit vollständig einstellt. [...] Dies ist der Fall, wenn die betreffende Person gezwungen war, das Einsatzgebiet des UNRWA zu verlassen, weil sie sich in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befand, und es dieser Organisation unmöglich war, ihr in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihr übertragenen Aufgabe in Einklang stehen. Die bloße Abwesenheit aus dem UNRWA-Einsatzgebiet oder die freiwillige Entscheidung, dieses zu verlassen, führt nicht zu einem Wegfall des Schutzes oder Beistandes [...].
In zeitlicher Hinsicht ist für die Beurteilung, ob der Schutz oder Beistand des UNRWA nach diesen Maßstäben nicht länger gewährt wird, im Rahmen einer individuellen Beurteilung der relevanten Umstände nicht nur der Zeitpunkt zu berücksichtigen, zu dem diese Person das UNRWA-Einsatzgebiet verlassen hat, sondern auch der Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (EuGH, Urteil vom 3. März 2022, C-349/20, juris Rn. 58). [...]
Hinsichtlich der verbleibenden Konstellation – das Mandatsgebiet wurde freiwillig verlassen, eine Rückkehr ist allerdings nicht mehr möglich bzw. zumutbar – hat die Kammer auch bisher schon keine "Sperrwirkung" (zum Begriff vgl. VG Minden, Urteil vom 18. März 2022 - 1 K 662/18.A -, juris Rn. 49) durch das freiwillige Verlassen angenommen (VG Potsdam, Urteil vom 6. Mai 2022 - 8 K 5781/17.A -, juris Rn. 32; Urteil vom 18. Juni 2020 - 8 K 3961/17.A -, juris Rn. 24; ebenso VG Köln, Urteil vom 8. Oktober 2021 - 20 K 3644/16.A -, juris Rn. 46 m.w.N.).
Die Kammer hält an dieser Rechtsauffassung fest. Die Gegenauffassung (insbesondere VG Berlin, Urteil vom 27. April 2023 - 34 K 69/21 A -, juris Rn. 79 ff., Urteil vom 24. November 2021 - 34 K 326.18 A -, juris Rn. 31 f.) überzeugt nicht. [...]
a. Wortlaut (aa), Zweck (bb) und Systematik (cc) der Spezialregelung in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 2011/95/EU, die trotz ihrer offenen Formulierung gegenwärtig ausschließlich auf Personen Anwendung findet, die bei dem UNRWA registriert sind (vgl. EuGH, Urteil vom 19. Dezember 2012 - C-364/11 -, juris Rn. 48) treffen keine eindeutigen Vorgaben für den maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt und lassen so Raum für eine einzelfallbezogene Entscheidung, deren Notwendigkeit in der Rechtsprechung des EuGH immer wieder betont wird (vgl. zuletzt EuGH, Urteil vom 3. März 2022, C-349/20, juris Rn. 53). Die Annahme einer Sperrwirkung der freiwilligen Ausreise führt in der Fallkonstellation des späteren Wegfalls des UNRWA-Schutzes hingegen zu schweren Verwerfungen im Flüchtlingsschutz für UNRWA-Palästinenser.
aa. Der Wortlaut der Regelungen in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Richtlinie 2011/95/EU ist hinsichtlich des Zeitpunkts offen formuliert. [...]
bb. Auch der Zweck der Spezialregelung spricht gegen die Annahme einer Sperrwirkung und für die Zuerkennung der ipso facto-Flüchtlingseigenschaft bei einer freiwilligen Ausreise mit späterem Wegfall des Schutzes. Die Regelung des Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 Richtlinie 2011/95/EU schließt bei dem UNRWA registrierte Palästinenser wegen des ihnen gewährten speziellen Flüchtlingsstatus im Einsatzgebiet der UNRWA grundsätzlich von der Anerkennung als Flüchtlinge in der Europäischen Union aus. [...] Die Annahme einer Sperrwirkung würde in dem Fall des späteren Wegfalls des UNRWA-Schutzes dazu führen, dass die betroffene Person von der Anerkennung als Flüchtling weiterhin ausgeschlossen ist, obwohl der Grund für diesen Ausschluss – die anderweitige Anerkennung als Flüchtling und damit verbundene Schutzgewährung – tatsächlich weggefallen ist. [...]
Die Annahme einer "Sperrwirkung" der freiwilligen Ausreise bei einer späteren Verschlechterung der Verhältnisse im UNRWA-Einsatzgebiet würde zudem zu völlig sachwidrigen Ergebnissen führen: Für die Klägerin dürfte im vorliegenden Fall nur ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG festgestellt werden. Zöge sie in den Libanon um und reiste kurze Zeit später wieder nach Deutschland ein, um der im Libanon drohenden Verelendung zu entkommen, müsste sie nach erneuter Einreise auch nach der Gegenauffassung als ipso facto-Flüchtling anzuerkennen sein, solange weiterhin von einem Wegfall des UNRWA-Schutzes für sie auszugehen sein sollte. Ein sachlicher Grund dafür ist nicht erkennbar. [...]
cc. Schließlich lässt sich eine Sperrwirkung in der hier vorliegenden Konstellation nicht ohne Brüche in die vom EuGH entwickelte Binnensystematik der Spezialregelung in Art. 12 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie einfügen. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 1 und Satz 2 der Richtlinie 2011/95/EU stellen im Zusammenspiel eine zwingend anzuwendende Spezialregelung dar (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Juli 2018 - C-585/16, Alheto -, juris Rn. 87). Denn entweder ist der Schutz oder Beistand des UNRWA weggefallen mit der Folge, dass dem Betroffenen deklaratorisch die ipso facto-Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, oder dies ist nicht der Fall und der Betroffene ist von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen [...] Die Annahme einer Sperrwirkung der freiwilligen Ausreise führt bei einem späteren Wegfall des UNRWA-Schutzes zu dem mit dieser Systematik nicht zu vereinbarenden Ergebnis, dass die betroffene Person von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, obwohl der Grund für den Ausschluss zum Zeitpunkt der behördlichen oder gerichtlichen Entscheidung nicht mehr vorliegt. Die Anerkennungsrichtlinie 2011/95/EU wäre insoweit ihrer effektiven Wirksamkeit beraubt.
b. Entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts Berlin (Urteil vom 27. April 2023 - 34 K 69/21 A -, juris Rn. 79 und 82) entspricht die Annahme einer Sperrwirkung in der vorliegenden Fallkonstellation eines späteren Wegfalls des Schutzes des UNRWA auch nicht einer gefestigten Rechtsprechung des EuGH. [...]
2. Auf der Grundlage dieser Maßstäbe gilt hier folgendes: Die Klägerin hat vor ihrer Ausreise den Schutz bzw. Beistand des UNRWA genossen; insoweit reicht die Registrierung als Nachweis aus [...].
Das Gericht geht davon aus, dass die Klägerin bei einer Rückkehr in den Libanon weiterhin Leistungen des UNRWA in Anspruch nehmen könnte. Das hätte grundsätzlich zur Folge, dass sie von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen ist. In ihrem Fall trifft dies jedoch nicht zu, weil die Voraussetzungen des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG ("Einschlussklausel") erfüllt sind.
Ob die Klägerin auf der Grundlage der vorstehend unter 1. ausgeführten Maßstäbe gezwungen war, im Jahr 2015 das UNRWA-Einsatzgebiet im Libanon zu verlassen, bedarf vorliegend keiner Entscheidung. Jedenfalls ist es ihr im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht möglich und zumutbar, in den Libanon zurückzukehren und sich dem Schutz der UNRWA erneut zu unterstellen. [...] Sie kann jedoch angesichts ihrer individuellen Umstände als auch der sich aus den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln ergebenden allgemeinen Lage nicht erwarten, sich im UNRWA-Einsatzgebiet im Libanon unter menschenwürdigen Lebensbedingungen aufhalten zu können, da sie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein wird, angesichts der gegenwärtigen schweren Versorgungskrise im Libanon gemeinsam mit ihrem Ehemann das absolutes Existenzminimum insbesondere hinsichtlich Ernährung und Trinkwasser für sich und ihre zwei minderjährigen Kinder – den Klägern in den Verfahren VG 8 K 187/21.A und VG 8 K 436/21.A – zu sichern (b.).
a. Die Klägerin kann erwarten, sich in Sicherheit im Einsatzgebiet des UNRWA im Libanon aufzuhalten. Ihr droht weder Verfolgung im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG (im Folgenden aa) noch ein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 AsylG (bb). [...]
Klägerin drohen jedoch menschenunwürdige Lebensbedingungen bei einer Rückkehr in das UNRWA-Einsatzgebiet im Libanon, weil sie sich dort aufgrund der humanitären Lage in einer existenzbedrohenden wirtschaftlichen Situation befinden würde.
aa. Menschenunwürdige Lebensbedingungen drohen, wenn der Betroffene sich unabhängig von seinem Willen und seiner persönlichen Entscheidung in einer Situation extremer materieller Not befinden wird, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, insbesondere, sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die seine physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder ihn in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre [...]
bb. Nach diesen Maßstäben ist der Einzelrichter davon überzeugt, dass im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nach Abwägung aller Umstände wie dem Alter, dem Geschlecht, dem Gesundheitszustand, der Volkszugehörigkeit, der Ausbildung, dem Vermögen und familiären oder freundschaftlichen Verbindungen eine solche außergewöhnliche humanitäre Lage individuell für die Klägerin vorliegt. Angesichts der unverändert desolaten Versorgungskrise im Libanon und vor dem Hintergrund der besonderen individuellen persönlichen Umstände der Klägerin wird diese mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein, gemeinsam mit ihrem Ehemann das absolute Existenzminimum für sich, die siebenjährige ... und den fünfjährigen ... sicherzustellen und damit dem Zustand der Verelendung ausgesetzt sein.
Die allgemeine Lebenssituation palästinensischer Flüchtlinge im Libanon stellt sich nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln im Wesentlichen wie folgt dar: In den palästinensischen Flüchtlingslagern im Libanon – die Klägerin lebte mit ihrer Familie bis zur Ausreise im Jahr 2015 nach eigenen Angaben allerdings neben einem Flüchtlingslager – herrschen prekäre Lebensbedingungen. Die Verhältnisse in den Flüchtlingslagern sind geprägt von Armut, Arbeitslosigkeit, teilweise desaströsen Wohnverhältnissen, fehlender Infrastruktur und Überbelegung [...]. Alle Lager sind massiv von den Hilfeleistungen der chronisch unterfinanzierten UNRWA abhängig [...]
Die anhaltende Versorgungskrise im gesamten Libanon führt zu einer weiteren Verschärfung der Situation. Der Wertverlust des libanesischen Pfunds, die dadurch ausgelöste Inflation sowie das Schwinden der Devisenreserven der libanesischen Zentralbank haben zu erheblichen Engpässen bei der Versorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln, Medikamenten, Strom und Treibstoff geführt [...]. Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen zählt den Libanon zu den 20 am schwersten betroffenen Hungerregionen der Welt (Schweizerische Flüchtlingshilfe, 23. März 2022, S. 6) und geht – gemeinsam mit der Food and Agriculture Organization of the United Nations (FAO) und dem libanesischen Landwirtschaftsministerium – davon aus, dass rund zwei Millionen Menschen – bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 5,6 Millionen Menschen – auf Unterstützung bei der Lebensmittelversorgung angewiesen sind [...].
Zudem haben Treibstoff- und Stromknappheit zu einer schweren Krise der öffentlichen Wasserversorgung geführt. Insbesondere Flüchtlinge haben häufig keinen Zugang zu teuren alternativen Wasserquellen und sind mitunter gezwungen, auf unsauberes Wasser zurückzugreifen. [...]
Das UNRWA und die von dessen Leistungen abhängigen palästinensischen Flüchtlinge im Libanon sind von dieser negativen Entwicklung in besonderer Weise betroffen [...]. Nach einer Umfrage des UNRWA im Juli 2021 haben 58 % bzw. 56 % der palästinensischen Familien im Libanon die Zahl oder den Umfang ihrer Mahlzeiten reduziert. [...]
cc. Bei dieser Sachlage geht das Gericht davon aus, dass es beachtlich wahrscheinlich ist, dass die Klägerin und ihr in diesem Zusammenhang mit in den Blick zu nehmender Ehemann aufgrund ihrer individuellen Situation bei einer Rückkehr in den Libanon nicht in der Lage sein werden, das absolute Existenzminimum – insbesondere ausreichende Ernährung und Versorgung mit Trinkwasser – für sich und ihre zwei minderjährigen Kinder – ... – zu sichern und ihnen ein Zustand der Verelendung droht.
(1) Zwar ist davon auszugehen, dass die Klägerin mit ihrer Familie im Falle der Rückkehr in den Libanon jedenfalls vorübergehend Aufnahme bei ihren dort lebenden Familienmitgliedern (Mutter und ein Bruder) oder den dort lebenden Geschwistern ihres Ehemannes (drei Brüder, eine Schwester) finden und daher keine Obdachlosigkeit zu befürchten hat. Zudem hat sie angegeben, ihre seit diesem Jahr in den USA lebende Schwester verfüge noch über eine Wohnung im Libanon.
Die Klägerin dürfte jedoch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht in der Lage sein, durch eine Erwerbstätigkeit substantiell zur Sicherung des absoluten Existenzminimums für sich und ihre Familie beizutragen. Zwar handelt es sich bei der Klägerin um eine gesunde Frau mittleren Alters. Allerdings hat sie nach eigenen Angaben keine weiterführende Schule besucht. Zudem ist der Betreuungsbedarf der minderjährigen Kinder zu berücksichtigen. Schließlich dürfte die Klägerin erhebliche Schwierigkeiten haben, überhaupt eine Arbeitsstelle zu finden. Für Palästinenser im Libanon gibt es hinsichtlich der Berufsausübung rechtliche Hindernisse und gesellschaftliche Diskriminierung. [...]
Das Gericht ist davon überzeugt, dass durch – die demnach allenfalls noch für die Klägerin erreichbaren – Gelegenheitsarbeiten ein substantieller Beitrag zur Sicherung des Lebensunterhalts in Höhe des absoluten Existenzminimums für eine vierköpfige Familie im Libanon gegenwärtig nicht erzielt werden kann.
Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht unter der Berücksichtigung des Umstandes, dass der Ehemann der Klägerin bei einer gemeinsamen Rückkehr einer Erwerbstätigkeit nachgehen könnte und als libanesischer Staatsangehöriger nicht den rechtlichen Beschränkungen für Palästinenser unterliegt. Er lebt seit 1998 in Deutschland und dürfte mit den Gegebenheiten im Libanon nur noch eingeschränkt vertraut sein. [...]
(2) Die Klägerin kann hinsichtlich der Sicherung des Existenzminimums ihrer Familie auch nicht oder nur sehr eingeschränkt auf familiäre Unterstützungsleistungen verwiesen werden. Zwar leben nach ihren Angaben noch ihre Mutter und ein Bruder im Libanon. Dass diese Familienmitglieder in der Lage wären, durch Unterstützungsleistungen den Lebensunterhalt einer vierköpfigen Familie maßgeblich zu sichern, hat die Klägerin nicht vorgetragen und ist auch sonst nicht ersichtlich. [...]
Auch die in Deutschland lebenden Geschwister der Klägerin – ... Brüder, ... Schwestern – sowie des Ehemanns der Klägerin – ... Brüder – sowie die in den USA lebende Schwester der Klägerin dürften allenfalls zu einer punktuellen Unterstützung in der Lage sein. [...]
(3) Auch unter Berücksichtigung der der Klägerin dem Grunde nach zustehenden Unterstützungsleistungen des UNRWA ist eine Befriedigung des absoluten Existenzminimums ihrer Familie mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten. Dabei ist bereits fraglich, ob auch die beiden Kinder und der Ehemann als libanesische Staatsangehörige diese Hilfsleistungen beanspruchen könnten. Während dem Gericht aus seiner Praxis Fälle bekannt sind, in denen die libanesische Ehefrau eines UNRWA-Palästinensers mit auf der UNRWA-Karte registriert worden ist, ist dies bei dem Ehemann und den Kindern tatsächlich nicht der Fall und dürfte auch nicht möglich sein, weil – anders als im umgekehrten Fall – davon ausgegangen werden wird, dass der libanesische Ehemann grundsätzlich in der Lage ist, seine staatenlose, palästinensische Ehefrau mit zu versorgen.
Letztlich kann dies jedoch dahingestellt bleiben. Wie dargelegt, sind die Unterstützungsleistungen des UNRWA aufgrund mangelnder finanzieller Mittel sehr beschränkt. [...]
(4) Unterstützungsleistungen durch den libanesischen Staat dürften für den Ehemann der Klägerin nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erreichbar sein. [...]