Eilrechtsschutz nach Ablauf der Überstellungsfrist gemäß § 80 Abs. 7 VwGO:
1. Gemäß § 80 Abs. 7 S. 1 VwGO kann ein Gericht Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit, insbesondere wegen veränderter Umstände, ändern oder aufheben. Ist die sechsmonatige Überstellungsfrist nach Ablehnung eines Antrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO abgelaufen und ist eine Verlängerung der Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-VO nach summarischer Prüfung rechtswidrig, liegen veränderte Umstände in diesem Sinne vor und ist der Beschluss aufzuheben und die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
2. Ein Flüchtigsein gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin-III-VO setzt mehr als eine nur vorübergehende, kurze Unerreichbarkeit voraus. Solange eine ausreisepflichtige Person in ihrer Wohnung oder Unterkunft tatsächlich wohnt, dort also ihren Lebensmittelpunkt hat und nur gelegentlich für kurze Zeit abwesend ist, muss sie das der Ausländerbehörde auch nicht anzeigen. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Anwesenheit der Antragstellerin nicht über das elektronische Erfassungssystem, durch visuelle Kontrollen oder bei Taschengeldabholungen festgestellt werden konnte.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerwG, Urteil vom 17.08.2021 - 1 C 38.20 - asyl.net: M30234; VG München, Urteil vom 26.07.2022 - M 5 K 21.50300 - bayern-recht.de)
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Der zulässige - insbesondere sachdienlich ausgelegte - Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 i.V.m. Satz 1 VwGO ist begründet.
1. Nach § 80 Abs. 7 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben. [...]
Im vorliegenden Fall liegen veränderte Umstände vor, die eine andere Entscheidung als im ursprünglichen Aussetzungsverfahren rechtfertigen. Die Klage gegen die Abschiebungsanordnung im Bescheid vom 24. November 2022 ist nach summarischer Prüfung erfolgreich. Der angegriffene Bescheid ist nach summarischer Prüfung durch Ablauf der Überstellungsfrist rechtswidrig geworden. Die sechsmonatige Überstellungsfrist, die durch die Ablehnung des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO mit Beschluss vom 19. Mai 2023 gemäß Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO erneut in Lauf gesetzt wurde, lief bis 19. November 2023. Die Verlängerung dieser Frist auf 18 Monate, mithin bis 19. November 2024, ist mit Blick auf Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO nach summarischer Prüfung rechtswidrig.
Gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO kann die Überstellungsfrist höchstens auf 18 Monate verlängert werden, wenn die betreffende Person flüchtig ist. [...]
Grundsätzlich reicht bei einem den zuständigen Behörden bekannten Aufenthalt des Antragstellers weder ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung oder Unterkunft noch das Nichtbefolgen einer Selbstgestellungsaufforderung für die Annahme, er sei flüchtig. Flüchtigsein ist mehr als eine vorübergehende kurze Unerreichbarkeit. Bei einer kurzen und vorübergehenden Abwesenheit ist der Staat weder rechtlich noch tatsächlich an der Durchführung einer (zwangsweisen) Überstellung gehindert. Dies gilt jedenfalls, solange keine Anhaltspunkte für eine längere Ortsabwesenheit oder für ein gezieltes Entziehen vorliegen, etwa wenn der Betroffene in Kenntnis einer konkret bevorstehenden Überstellung oder generell zu den üblichen Abholzeiten in der ihm zugewiesenen Wohnung oder Unterkunft im Sinne eines gezielten Ab- und Wiederauftauchens nicht anwesend oder auffindbar ist (vgl. BVerwG, Urt. v. 17. August 2021, a.a.O., Rn. 22, 30 f.).
Gemessen an diesen Grundsätzen kann von einem Flüchtigsein der Antragstellerin im Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung nicht ausgegangen werden. Die Antragsgegnerin stützt ihre Entscheidung auf die Mitteilung der Ausländerbehörde vom 20. September 2023, wonach die Antragstellerin bei einer Wohnungskontrolle am 20. September 2023 nicht angetroffen worden sei. Seit wann die Antragstellerin nicht mehr in der Wohnung sei, konnte nicht ermittelt werden. Sie habe aber weder im elektronischen Erfassungssystem der Einrichtung , noch durch visuelle Kontrollen, noch zu Taschengeldauszahlungen als anwesend festgestellt werden können. Aus diesen Tatsachen kann jedoch nicht auf ein Flüchtigsein der Antragstellerin geschlossen werden. "Flüchtigsein" ist mehr als eine vorübergehende kurze Unerreichbarkeit. Solange ein Ausreisepflichtiger in seiner Wohnung oder Unterkunft tatsächlich wohnt, dort also seinen Lebensmittelpunkt hat, und nur gelegentlich für kurze Zeit abwesend ist, muss er dies der Ausländerbehörde nicht anzeigen (VG München, Urt. v. 26. Juli 2022 - M 5 K 21.50300 – juris Rn. 27). Allein der Umstand, dass die Antragstellerin am 20. September 2023, 10.30 Uhr nicht in ihrer Wohnung anwesend war, vermag vorliegend keine Anhaltspunkte für ein gezieltes Entziehen der Überstellung zu begründen. [...] Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Umstand, dass die Anwesenheit der Antragstellerin nicht über das elektronische Erfassungssystem, durch visuelle Kontrollen oder bei Taschengeldabholungen festgestellt werden konnte. All diese Umstände ermöglichen auch in ihrer Gesamtschau keinen sicheren Rückschluss darauf, dass die Antragstellerin generell zu den üblichen Abholzeiten in der ihr zugewiesenen Wohnung oder Unterkunft im Sinne eines gezielten Ab- und Wiederauftauchens nicht anwesend oder auffindbar ist (so ausdrücklich BVerwG, Urt. v. 17. August 2021 - 1 C 38.20 - InfAuslR 2022, 74, juris Rn. 30). Von einem "wochenlangen Untertauchen" der Antragstellerin, wie es die Antragsgegnerin annimmt, kann daher nicht ausgegangen werden. [...]