LG Traunstein

Merkliste
Zitieren als:
LG Traunstein, Beschluss vom 18.12.2023 - 4 T 2190/23 - asyl.net: M32044
https://www.asyl.net/rsdb/m32044
Leitsatz:

Haftanordnung mangels Fluchtgefahr rechtswidrig:

1. Haftanträge unterliegen gemäß § 417 FamFG keiner besonderen Formvorschrift und sind insbesondere nicht zwingend gemäß § 14b Abs. 1 S. 1 FamFG elektronisch zu übermitteln. Selbst wenn insofern ein Formverstoß anzunehmen wäre, könnten sich eine betroffene Person im Übrigen nicht darauf berufen, da § 14b FamFG der Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs und nicht dem Schutz der Interessen Einzelner zu dienen bestimmt ist.

2. Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 2 AufenthG setzt voraus, dass die betroffene Person über die haftrechtlichen Konsequenzen aufgeklärt wurde, die das Fernbleiben einer von der Ausländerbehörde angesetzten Anhörung oder ärztlichen Untersuchung haben kann. Dass eine solche Aufklärung erfolgt ist, kann nicht dadurch belegt werden, dass ein entsprechendes Schreiben an die prozessbevollmächtigte Person versandt worden ist. Zum Nachweis, dass eine entsprechende Aufklärung auf dem Postweg erfolgt ist, bedarf es eines Zustellungsbelegs.

3. Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG setzt voraus, dass die betroffene Person ihren Aufenthaltsort gewechselt hat, ohne zuständigen Behörden die Anschrift anzugeben. Dieser Verstoß gegen die Anzeigepflicht eines Wohnortwechsels muss dabei in einem zeitlichen Zusammenhang zur geplanten Abschiebung stehen, und die betroffene Person muss sich dadurch aktiv und zielgerichtet den Behörden entzogen haben. Zumindest wenn der Verstoß - wie hier - mehr als ein Jahr zurückliegt, ist davon nicht auszugehen.

4. Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3b Nr. 5 AufenthG setzt voraus, dass die betroffene Person über die haftrechtlichen Konsequenzen aufgeklärt worden ist, die ein Verstoß gegen die dort genannten Mitwirkungshandlungen haben kann. Eine solche Aufklärung muss auch in zeitlichem Zusammenhang mit einer konkret bevorstehenden Abschiebung erfolgen. Daran fehlt es, wenn die Abschiebung erst mehr als zwei Jahre nach Übergabe eines entsprechenden Aufklärungsschreibens betrieben wird.

5. Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3b Nr. 6 AufenthG setzt einen Verstoß gegen die Pflichten gemäß § 61 Abs. 1 S. 1, Abs. 1a, Abs. 1c S. 1 Nr. 3 oder Abs. 1c S. 2 AufenthG voraus. Ein Verstoß gegen eine räumliche Beschränkung gemäß § 61 Abs. 1c S. 1 Nr. 1 AufenthG begründet demnach keine Fluchtgefahr.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht zu Ls 1: AG Itzehoe, Beschluss vom 18.01.2022 - 86 XIV 1845 B - asyl.net: M30391)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Fluchtgefahr, Mitwirkungspflicht, Belehrung, Verstoß gegen räumliche Beschränkung, Wechsel des Aufenthaltsorts,
Normen: FamFG § 417, FamFG § 14b Abs. 1 S. 1, AufenthG § 62 Abs. 3a Nr. 2, AufenthG § 62 Abs. 3a Nr. 3, AufenthG § 62 Abs. 3b Nr. 5, AufenthG § 62 Abs. 3b Nr. 6
Auszüge:

[...]

2. Der Feststellungsantrag ist auch begründet. Die Anordnung und Vollziehung der Haft zur Sicherung der Abschiebung für den Zeitraum vom 16.02.2023 bis zum 08.03.2023 war rechtswidrig. Es liegt kein Haftgrund i.S.d. § 62 Abs. 3 AufenthG vor. [...]

b) Der einstweiligen Anordnung der Zurückschiebehaft lag ein zulässiger und ausreichend begründeter Haftantrag der beteiligten Ausländerbehörde vom 14.02.2023 zugrunde, § 51 Abs. 1 FamFG. [...]

bb) Dass der Haftantrag mittels handschriftlich unterschrieben und eingescannten PDF-Dokuments im Anhang einer einfachen E-Mail übermittelt wurde, ist unschädlich. Aus § 14b FamFG, der vorschreibt, dass bei Gericht schriftlich einzureichende Antrage und Erklärungen u.a. durch eine Behörde als elektronisches Dokument zu übermitteln sind, kann jedenfalls keine Rechtswidrigkeit der Haftanordnung hergeleitet werden. Die Norm gilt bereits nur für schriftlich einzureichende Dokumente. § 417 FamFG schreibt für Haftanträge jedoch gerade keine bestimmte Form vor. [...]

Nach dem Gesetzeswortlauf ist der nach Erlass dieser Entscheidung in Kraft getretene § 14b FamFG für Haftanträge nicht einschlägig; eine planwidrige Regelungslücke ist nicht ersichtlich. Jedenfalls kann aus einer etwaigen Verletzung dieser Formvorschrift keine Rechtswidrigkeit der Haftanordnung gefolgert werden. § 14b FamFG dient der Forderung des elektronischen Rechtsverkehrs, nicht jedoch dem Schutz von Betroffeneninteressen. [...]

с) Es liegen jedoch weder die Voraussetzungen der vom Amtsgericht angenommenen widerleglichen Vermutungen für eine Fluchtgefahr gemäß §§ 57 Abs. 3, 62 Abs. 3, Abs. 3а Nr. 2, Nr. 3, Nr. 5 AufenthG noch die im Haftantrag vorgebrachten widerleglichen Vermutungen bzw. konkreten Anhaltspunkte für eine Fluchtgefahr gemäß §§ 57 Abs. 3, 62 Abs. 3, Abs. 3а Nr. 2, Nr. 3, Abs. 3b Nr. 5, Nr. 6 AufenthG vor noch kann angesichts der Gesamtumstände aufgrund des aus der Ausländerakte bekannten Sachverhalts unabhängig von den Voraussetzungen der § 62 Abs. 3а und 3b AufenthG auf eine Fluchtgefahr i.S.d. § 62 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 geschlossen werden.

аа) Fluchtgefahr wird gemäß § 62 Abs. 3а Nr. 2 AufenthG widerleglich vermutet, wenn der Ausländer unentschuldigt zur Durchführung einer Anhörung oder ärztlichen Untersuchung nach § 82 Absatz 4 Satz 1 AufenthG nicht an dem von der Ausländerbehörde angegebenen Ort angetroffen wurde, sofern der Ausländer bei der Ankündigung des Termins auf die Möglichkeit seiner Inhaftnahme im Falle des Nichtantreffens hingewiesen wurde. Es wurden zwar am 02.01.2020 und am 22.02.2021 entsprechende Schreiben an den damaligen Verfahrensbevollmächtigen des Betroffenen versandt; allerdings befinden sich hierfür keine Zustellnachweise in der Akte. Ein Einlieferungsbeleg reicht nicht. Darüber hinaus ist fraglich, ob der zeitliche Zusammenhang dieses Verstoßes zur zwei Jahre später erst durchgeführten Abschiebung noch gewahrt ist.

bb) Fluchtgefahr wird gemäß § 62 Abs. 3a Nr. 3 AufenthG widerleglich vermutet, wenn die Ausreisefrist abgelaufen ist und der Ausländer seinen Aufenthaltsort trotz Hinweises auf die Anzeigepflicht gewechselt hat, ohne der zuständigen Behörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar ist. Eine Wohnsitzüberprüfung durch die PI ... am ... 2021 ergab zwar, dass sich der Betroffene an der Meldeadresse nicht mehr aufhält; er galt seit dem 18.03.2021 als nach Unbekannt verzogen. Ein Wiederzuzug erfolgte erst am 06.04.2022, als der Betroffene sich bei der Erstaufnahmeeinrichtung in München zurückmeldete. Damit gab der Betroffene für über ein Jahr der Ausländerbehörde seinen Aufenthaltsort nicht an. Dieser Verstoß lag bei Beschlusserlass allerdings bereits über ein Jahr zurück; der erforderliche zeitliche Zusammenhang zur Abschiebung (vgl. Hofmann/Keßler, Ausländerrecht, § 62 AufenthG Rn. 30 m.w.N.) ist daher nicht mehr gegeben. Außerdem ist nicht zu sehen, dass sich der Betroffene durch den Wechsel des Aufenthaltsortes aktiv und zielgerichtet dem Zugriff der Behörde entzogen hat (vgl. Hofmann/Keßler, Ausländerrecht, § 62 AufenthG Rn. 30). Auch der Telefonvermerk des Landratsamts Traunstein über das Telefonat mit der PI ... vom ... 2023 kann nicht herangezogen werden. Diese teilte lediglich mit, dass sich der Betroffene nie in seiner Unterkunft aufhalte und bereits bei mehreren Einsätzen in der Vergangenheit (z.B. Zwangsvorführung bei der gambischen Botschaftsdelegation zur Ausstellung von Passersatzpapieren) nicht in seiner Unterkunft angetroffen habe werden können. Es fehlt in der Auslandstakte jedoch an konkreten Nachweisen, an welchen Tagen der Betroffene nicht angetroffen werden konnte. Von den gambischen Behörden wurden im übrigen bereits am 23.04.2021 ein Heimreiseschein für den Betroffenen ausgestellt. Der pauschale Hinweis, der Betroffene halte sich "nie" an seiner Unterkunft auf, reicht jedenfalls nicht. Zumal sich die Ausländerbehörden hier zu sich selbst in Widerspruch setzen: Einerseits gehen sie davon aus, dass der Betroffene an seiner Unterkunft, an der er gemeldet ist, auch wohnhaft ist, da ihm dort beispielsweise der Bescheid des BAMF vom 16.12.2022 zugestellt wurde und beispielsweise auch das Anschreiben zur Duldungsverlängerung noch am 02.02.2023 in diese Unterkunft versandt wurde und der Betroffene vom Termin am 16.02.2023 zur Duldungsverlängerung, an dem er verhaftet wurde, offenbar auch Kenntnis erlangte, da er erschien. Andererseits wird auf den pauschalen Hinweis, er halte sich nie in der Unterkunft auf, ein Haftgrund gestützt. [...]

dd) Ein konkreter Anhaltspunkt für Fluchtgefahr i.S.d. § 62 Abs. 3b Nr. 5 AufenthG kann ferner sein, dass der Ausländer die Passbeschaffungspflicht nach § 60b Abs. 3 S. 1 Nr. 1, 2 und 6 AufenthG nicht erfüllt oder andere als die in § 62 Abs. 3a Nr. 2 genannten gesetzlichen Mitwirkungshandlungen zur Feststellung der Identität, insbesondere die ihm nach § 48 Abs. 3 S. 1 AufenthG obliegenden Mitwirkungshandlungen, verweigert oder unterlassen und vorher auf die Möglichkeit seiner Inhaftnahme im Falle der Nichterfüllung der Passersatzbeschaffungspflicht bzw. der Verweigerung oder Unterlassung der Mitwirkungshandlung hingewiesen wurde. Der Betroffene wurde zwar mit mehreren Schreiben aus den Jahren 2017 bis 2019 erfolglos aufgefordert, an seiner Identitätsklärung mitzuwirken und Identitätsnachweise vorzulegen. In diesen Schreiben fehlte jedoch die Belehrungspflicht. Das Schreiben vom 02.12.2020 enthielt schließlich die erforderliche Belehrung über die Möglichkeit der Inhaftnahme und wurde auch an den damaligen Verfahrensbevollmächtigen zugestellt. Aus der Auslandstakte geht auch mehrfach hervor, dass der Betroffene sich auf Deutsch verständigen kann. Allerdings fehlt es auch hier am erforderlichen zeitlichen Zusammenhang zu einer konkret bevorstehenden Abschiebung (vgl. Hofmann/Keßler, Ausländerrecht, § 62 AufenthG Rn. 39), da die Abschiebung erst mehr als zwei Jahre nach Herausgabe des Schreibens betrieben wurde. [...]