Eilrechtsschutz bei Verlängerung der Überstellungsfrist im Dublin-Verfahren:
1. Verlängert das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin-III-VO, kann Eilrechtsschutz hiergegen erst nach Ablauf der ursprünglichen, sechsmonatigen Überstellungsfrist erlangt werden. Denn bei der Verlängerung der Überstellungsfrist handelt es sich nicht um einen gesondert angreifbaren Verwaltungsakt, sodass Eilrechtsschutz erst mit dem Argument erlangt werden kann, dass die sechsmonatige Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin-III-VO abgelaufen ist und die Voraussetzung zu deren Verlängerung nicht vorlagen.
2. Wurde nach Erlass des Dublin-Bescheids ein Eilantrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO gestellt und abgelehnt, ist Eilrechtsschutz wegen veränderter Umstände (Ablauf der Überstellungsfrist) gemäß § 80 Abs. 7 VwGO zu erlangen. Wurde ein solcher Antrag - wie hier - ursprünglich nicht gestellt, kann Eilrechtsschutz gemäß § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO durch einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung erlangt werden.
3. Ein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 S. 1 VwGO ist auch vor Klageerhebung (hier: auf Wiederaufgreifen des Verfahrens gemäß § 51 Abs. 1 VwVfG) möglich. Der Antrag ist begründet, wenn die Dringlichkeit einer einstweiligen Anordnung (sog. Anordnungsgrund), sowie der Anspruch auf Erlass einer solchen Anordnung glaubhaft gemacht werden (sog. Anordnungsanspruch).
4. Ein Anspruch auf Aufhebung des Dublin-Bescheids und Prüfung des Asylbegehrens im nationalen Verfahren besteht hier, weil die Überstellungsfrist nicht hätte verlängert werden dürfen. Die betroffene Person befand sich zum Zeitpunkt des Abschiebungsversuchs in stationärer Behandlung, nachdem sie von einem Notarztwagen ins Krankenhaus gebracht worden war. Auch angesichts einer behördlichen Bereithalteanordnung sowie der Koinzidenz zwischen Krankenhausaufenthalt und geplanter Überstellung ist nicht von einem Flüchtigsein zum Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung auszugehen.
(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht, wonach Zulässigkeit eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Anordnung einen vorherigen Antrag beim BAMF voraussetzt: VG Würzburg, Beschluss vom 14.03.2023 - W 1 E 23.50094 - asyl.net: M32048)
[...]
4 Die Überstellung am … August 2023 scheiterte, nachdem die Antragstellerin weder auf ihrem Zimmer noch auf dem Gelände ihrer Aufnahmeeinrichtung angetroffen wurde. Mit Schreiben vom gleichen Tag teilte die Antragsgegnerin den dänischen Behörden mit, dass die 18-monatige Überstellungsfrist gelte, weil die Antragstellerin flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 VO (EU) 604/2013 (Dublin III-VO) sei.
5 Mit Schriftsatz vom 5. Oktober 2023 erhob der Bevollmächtigte der Antragstellerin Feststellungsklage hinsichtlich des Ablaufs der Überstellungsfrist. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylverfahrens der Antragstellerin gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen sei. Die Antragstellerin sei nicht im Sinne von Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO flüchtig gewesen. Die Antragstellerin sei am … 2023 wegen starker Schmerzen mit dem Krankenwagen ins Klinikum gebracht worden. Die Antragstellerin legte hierzu einen auf den … 2023 datierten Arztbrief des Klinikums … vor, aus dem hervorgeht, dass sich die Antragstellerin vom … 2023 bis … 2023 dort befunden habe bzw. dass sie sich wegen Unterbauchschmerzen ... dort vorgestellt habe. [...]
13 [...] Im vorliegenden Fall, in dem es um die Frage des Zuständigkeitsübergangs gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO geht, liegt keine Anfechtungskonstellation vor, da die Erklärung der Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate durch die Antragsgegnerin kein gesondert angreifbarer Verwaltungsakt ist (vgl. BVerwG, B.v. 2.12.2019 – 1 B 75.19 – juris Rn. 8 ff.). Demnach hat die nachträgliche Geltendmachung des Zuständigkeitsübergangs gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO im vorläufigen Rechtsschutz regelmäßig im Weg der einstweiligen Anordnung gemäß § 123 Abs. 1 VwGO zu erfolgen, wenn nicht ein Antrag gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO im Hinblick auf einen ursprünglich fristgerecht gestellten (und zwischenzeitlich abgelehnten) Antrag nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO und noch anhängigen Klageverfahren gegen die Abschiebungsanordnung möglich wäre. Letzteres ist vorliegend nicht der Fall, da der Bescheid vom … März 2023 bestandskräftig ist.
14 2. Der hilfsweise gestellte Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
15 a) Der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ist in der vorliegenden Konstellation zulässig. Auch wenn vorläufiger Rechtsschutz gegen eine Abschiebungsanordnung im Dublin-Verfahren grundsätzlich nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylG i.V.m. § 80 Abs. 5 VwGO zu beantragen ist, ist es in der Rechtsprechung anerkannt, dass um vorläufigen Rechtsschutz nach § 123 Abs. 1 VwGO nachgesucht werden kann, wenn nach Eintritt der Bestandskraft der Abschiebungsanordnung eine Veränderung der Sach- und Rechtslage erfolgt, welche die Abschiebung unmöglich macht. In diesem Fall sichert der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO den in der Hauptsache zu verfolgenden Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG ab [...].
16 b) Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte, oder auch nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO zur Regelung eines vorläufigen Zustandes, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, wenn dies nötig erscheint, um wesentliche Nachteile für den Antragsteller abzuwenden. Dabei hat ein Antragsteller sowohl die Dringlichkeit einer Regelung (Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 ZPO). Maßgebend hierfür sind die rechtlichen und tatsächlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts.
17 Gemessen an diesen Anforderungen hat die Antragstellerin vorliegend sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Die Antragstellerin hat nach Durchsicht der Behördenakte sowie nach Prüfung ihres Vorbringens und der vorgelegten Unterlagen einen Anspruch darauf, dass die Antragsgegnerin den Bescheid vom … März 2023 wegen entscheidungserheblicher Änderung der Sach- und Rechtslage zu ihren Gunsten aufhebt und ihren Asylantrag im nationalen Verfahren prüft. Die Überstellungsfrist konnte entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin nicht auf 18 Monate verlängert werden.
18 aa) Die Antragstellerin war im Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung am … August 2023 nicht flüchtig im Sinne des Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO.
19 Der in der Dublin III-Verordnung verwendete Begriff des Flüchtigseins ist nicht legal definiert. [...]
20 Grundsätzlich reicht allerdings bei einem den zuständigen Behörden bekannten Aufenthalt des Antragstellers weder ein einmaliges Nichtantreffen in der Wohnung oder Unterkunft noch das Nichtbefolgen einer Selbstgestellungsaufforderung für die Annahme, er sei flüchtig. Flüchtigsein ist mehr als eine vorübergehende kurze Unerreichbarkeit. Bei einer kurzen und vorübergehenden Abwesenheit ist der Staat weder rechtlich noch tatsächlich an der Durchführung einer (zwangsweisen) Überstellung gehindert. Dies gilt jedenfalls, solange keine Anhaltspunkte für eine längere Ortsabwesenheit oder für ein gezieltes Entziehen vorliegen, etwa wenn der Betroffene in Kenntnis einer konkret bevorstehenden Überstellung oder generell zu den üblichen Abholzeiten in der ihm zugewiesenen Wohnung oder Unterkunft im Sinne eines gezielten Ab- und Wiederauftauchens nicht anwesend oder auffindbar ist (vgl. BVerwG, U.v. 17.8.2021, a.a.O., Rn. 22, 30 f. zur Selbstgestellungsaufforderung; Vereitelungsabsicht verneint bei stationärer Behandlung im Krankenhaus: U.v. 17.8.2021 – 1 C 51.20 – juris Rn. 31).
21 Unter Berücksichtigung dieser Maßgaben war die Antragstellerin am … August 2023 nicht als "flüchtig" anzusehen, da im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt dieses Beschlusses (§ 77 Abs. 1 Halbs. 2 AsylG) die subjektive "Entziehungsabsicht" nicht zur Überzeugung des Gerichts feststeht. Das Gericht hält den vom Bundesverwaltungsgericht im Verfahren 1 C 51.20 (juris Rn. 31) aufgestellten Rechtssatz, dass eine stationäre Behandlung im Krankenhaus gegen eine Vereitelungsabsicht der zu überstellenden Person spreche, auch im vorliegenden Verfahren für anwendbar, in welchem (anders als im Verfahren 1 C 51.20) eine sogenannte Bereithalteanordnung ergangen ist (vgl. auch VG München, GB v. 3.3.2022 – M 10 K 21.50320 – juris Rn. 32).[...]
22 Angesichts der Tatsache, dass die Antragstellerin offenbar an ihrer Aufnahmeeinrichtung vom Notarzt abgeholt wurde und ins Klinikum gebracht wurde, wo sie stationär aufgenommen wurde, kann ihr rechtlich nicht zu Last gelegt werden, am … Oktober 2023 oder unmittelbar danach die Behörden nicht über ihren aktuellen Aufenthaltsort informiert zu haben.[...]
23 Auch wenn der Umstand des Verlassens der Antragstellerin aus der Aufnahmeeinrichtung trotz ergangener Bereithalteanordnung im Zeitpunkt der Verlängerungsentscheidung aus der Perspektive der Antragsgegnerin den ausschlaggebenden Anhaltspunkt gegeben hat (der nach der oben genannten Rechtsprechung an sich grundsätzlich auch ausreichend wäre), wird dieser aber eben durch die nachträglich bekannt gewordenen Umstände zur stationären Aufnahme der Antragstellerin im Klinikum wieder relativiert bzw. letztendlich auch erklärt. In dieses Gesamtbild fügt sich ergänzend auch noch der Umstand ein, dass das Zimmer der Antragstellerin weiterhin noch "bewohnt" aussah, was in einer vorzunehmenden Gesamtbetrachtung tendenziell gegen eine Entziehungsabsicht gewürdigt werden kann.
24 Das Gericht verkennt insgesamt nicht, dass die Koinzidenz des geplanten Überstellungstermins und der stationäre Klinikaufenthalt vom … 2023 bis … 2023 auf der Hand liegen. Gleichwohl ist es angesichts der vom Gerichtshof der Europäischen Union und vom Bundesverwaltungsgericht geklärten Maßstäbe zu Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO nicht möglich, die Einlassungen der Antragstellerin zu ihren Schmerzen bzw. dem stationären Klinikaufenthalt als unbeachtlich zu verwerfen und lediglich auf die Tatsache ihrer fehlenden Anwesenheit in ihrem Zimmer am … 2023 zu rekurrieren. [...]
25 Mangels Flüchtigseins konnte daher die Überstellungsfrist nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO auf 18 Monate verlängert werden, sodass weiterhin die sechsmonatige Überstellungsfrist galt. Da diese inzwischen abgelaufen ist, ist die Zuständigkeit für die Bearbeitung des Asylverfahrens auf die Antragsgegnerin übergegangen (Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO), worauf sich die Antragstellerin auch berufen kann (vgl. BVerwG, U.v. 17.8.2021 – 1 C 38.20 – juris Rn. 36 m.w.N.).
26 bb) Der Anordnungsgrund folgt aus der Eilbedürftigkeit der Sache. Nach unbestrittenen Angaben der Antragstellerin steht eine Überstellung nach Dänemark unmittelbar bevor. Die mit dieser Anordnung einhergehende Vorwegnahme der Hauptsache ist im Hinblick auf die Anforderungen an die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes aus Art. 19 Abs. 4 GG vorliegend geboten, da nach den obigen Ausführungen ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit des Obsiegens der Antragstellerin im Hauptsacheverfahren besteht und ohne die Anordnung mit dem potenziellen Eintritt irreversibler Zustände zu rechnen ist (vgl. Happ in Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 16. Aufl. 2022, § 123 VwGO Rn. 66a). [...]