Frauen können soziale Gruppe sein:
1. Art. 10 Abs. 1 Bst. d Qualifikationsrichtlinie [RL 2011/95/EU], der den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe regelt, ist im Lichte der Istanbul-Konvention [Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt] auszulegen.
2. Frauen eines Herkunftslandes können je nach den dort herrschenden Verhältnisse auch insgesamt und nicht nur als enger eingegrenzte Gruppe als "bestimmte sozialen Gruppe" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Bst. d Qualifikationsrichtlinie angesehen werden, wenn sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexualisierter/sexueller und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind.
3. Bei nicht-staatlicher Verfolgung ist für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß Art. 9 Abs. 3 Qualifikationsrichtlinie ausreichend, wenn entweder zwischen der nicht-staatlichen Verfolgungshandlung oder dem Fehlen von Schutz durch einen Schutzakteur eine Verknüpfung zum Verfolgungsgrund besteht.
4. Der Begriff des ernsthaften Schadens gemäß Art. 15 Bst. a, b Qualifikationsrichtlinie umfasst die tatsächliche Drohung, durch Angehörige der Familie oder Gemeinschaft wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen getötet zu werden oder andere Gewalttaten zu erleiden.
(Leitsätze der Redaktion; Anmerkung: Art. 10 Abs. 1 Bst. d QRL ist in § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, Art. 9 Abs. 3 QRL ist in § 3a Abs. 3 AsylG und Art. 15 QRL in § 4 Abs. 1 S. 2 AsylG umgesetzt.)
Siehe zum bisherigen Streitstand:
[...]
19 WS ist eine türkische Staatsangehörige, die zur ethnischen Gruppe der Kurden gehört und bei der es sich um eine geschiedene sunnitische Muslimin handelt. [...]
20 Bei drei Befragungen der DAB im Oktober 2019 gab WS an, im Alter von 16 Jahren zwangsverheiratet worden zu sein und drei Töchter geboren zu haben. Ihr Ehemann soll sie während ihrer Ehe geschlagen haben, ohne dass ihre leibliche Familie, die von dieser Situation gewusst habe, ihr geholfen hätte. Sie sei ... 2016 aus ihrer ehelichen Wohnung geflohen, habe im Laufe des Jahres 2017 eine religiöse Ehe geschlossen und ... 2018 einen Sohn aus dieser Ehe geboren. Nachdem sie die Türkei verlassen habe, sei sie trotz der Einwände ihres ersten Ehemanns im ... 2018 offiziell von ihm geschieden worden. Aus diesen Gründen gab sie an, dass sie fürchte, von ihrer Familie getötet zu werden, sollte sie in die Türkei zurückkehren. [...]
22 Mit Bescheid vom 21. Mai 2020 lehnte der Leiter der DAB den Antrag von WS auf internationalen Schutz ab, da er zum einen der Ansicht war, dass die von WS angeführten Gründe für ihre Ausreise aus der Türkei, insbesondere häusliche Gewalt oder Todesdrohungen seitens ihres Ehemanns und ihrer leiblichen Familienangehörigen, für die Gewährung dieses Status nicht relevant seien, da sie keinem der in Art. 8 Abs. 1 ZUB genannten Verfolgungsgründe zugeordnet werden könnten. Außerdem habe WS nicht erklärt, Opfer von Verfolgungshandlungen aufgrund ihres Geschlechts zu sein.
23 Zum anderen lehnte es der Leiter der DAB ab, WS den subsidiären Schutzstatus zu gewähren. [...]
24 Mit Urteil vom 15. Oktober 2020, das am 9. März 2021 vom Varhoven administrativen sad (Oberstes Verwaltungsgericht, Bulgarien) bestätigt und rechtskräftig wurde, wies der Administrativen sad Sofia grad (Verwaltungsgericht Sofia-Stadt, Bulgarien) die von WS gegen den in Rn. 22 des vorliegenden Urteils angeführten Bescheid erhobene Klage ab.
25 Am 13. April 2021 stellte WS auf der Grundlage neuer Beweise einen Folgeantrag auf internationalen Schutz unter Berufung auf begründete Furcht vor Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer "bestimmten sozialen Gruppe", nämlich der Gruppe von Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt geworden seien, und von Frauen, die Opfer von "Ehrenverbrechen" werden könnten. Sie führte aus, der türkische Staat sei nicht in der Lage, sie gegenüber diesen nichtstaatlichen Akteuren zu verteidigen, und machte geltend, dass ihre Zurückweisung in die Türkei sie einem "Ehrenverbrechen" oder einer Zwangsehe und damit einem Verstoß gegen die Art. 2 und 3 EMRK aussetzen würde.
26 Zur Stützung dieses Antrags legte WS als neuen Beweis eine Entscheidung eines türkischen Strafgerichts vor, mit der ihr früherer Ehemann wegen einer gegen sie im September 2016 begangenen Straftat der gefährlichen Drohung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten verurteilt wurde. [...]
27 Mit Bescheid vom 5. Mai 2021 lehnte die DAB die Wiederaufnahme des Verfahrens über die Gewährung internationalen Schutzes auf den Folgeantrag von WS hin mit der Begründung ab, dass WS keine wichtigen neuen Tatsachen in Bezug auf ihre persönliche Lage oder ihren Herkunftsstaat vorgetragen habe. [...]
28 Das vorlegende Gericht weist zunächst darauf hin, dass, auch wenn der von WS gestellte Folgeantrag auf internationalen Schutz als unzulässig abgelehnt worden sei, gleichwohl eine Auslegung der materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes erforderlich sei, damit es feststellen könne, ob WS neue Umstände oder Tatsachen vorgebracht habe, die die Gewährung eines solchen Schutzes rechtfertigten.
29 Der Gerichtshof habe nie über die in der vorliegenden Rechtssache aufgeworfenen Fragen befunden, "die sich auf geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen in Form von häuslicher Gewalt und Drohung mit Ehrenverbrechen als Grund für die Gewährung internationalen Schutzes beziehen". [...]
35 Mit seinen ersten drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen die Frauen dieses Landes insgesamt als "einer bestimmten sozialen Gruppe" zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines "Verfolgungsgrundes", der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann, oder ob die betreffenden Frauen ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen müssen, um einer solchen Gruppe angehören zu können. [...]
40 Was insbesondere den Grund der "Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe" betrifft, ergibt sich aus Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 1, dass eine Gruppe als "bestimmte soziale Gruppe" gilt, wenn zwei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind. Erstens müssen die Mitglieder der betreffenden Gruppe zumindest eines der folgenden drei Identifizierungsmerkmale teilen, nämlich "angeborene Merkmale" oder "einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann", oder "Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung …, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten". Zweitens muss diese Gruppe im Herkunftsland eine "deutlich abgegrenzte Identität" haben, "da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird".
41 Zudem wird in Art. 10 Abs. 1 Buchst. d Abs. 2 u. a. erläutert, dass "[g]eschlechtsbezogene Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, … zum Zweck der Bestimmung der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der Ermittlung eines Merkmals einer solchen Gruppe angemessen berücksichtigt [werden]". Diese Bestimmung ist im Licht des 30. Erwägungsgrundes der Richtlinie 2011/95 zu lesen, wonach die geschlechtliche Identität mit bestimmten Rechtstraditionen und Bräuchen im Zusammenhang stehen kann, wie z. B. Genitalverstümmelungen, Zwangssterilisationen oder erzwungenen Schwangerschaftsabbrüchen. [...]
44 Erstens ist in Anbetracht der von diesem Gericht geäußerten Zweifel an der Relevanz des CEDAW und des Übereinkommens von Istanbul für die Auslegung von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zum einen darauf hinzuweisen, dass die Union zwar nicht Vertragspartei des ersten Übereinkommens ist, dass aber alle Mitgliedstaaten dieses Übereinkommen ratifiziert haben. Das CEDAW zählt somit zu den einschlägigen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt und unter deren Beachtung die genannte Richtlinie, insbesondere ihr Art. 10 Abs. 1 Buchst. d, auszulegen ist. [...]
46 Zum anderen ist in Bezug auf das Übereinkommen von Istanbul, das die Union seit dem 1. Oktober 2023 bindet, hervorzuheben, dass dieses Übereinkommen Verpflichtungen enthält, die in den nwendungsbereich von Art. 78 Abs. 2 AEUV fallen, der den Unionsgesetzgeber ermächtigt, Maßnahmen in Bezug auf ein gemeinsames europäisches Asylsystem wie die Richtlinie 2011/95 zu erlassen (vgl. in diesem Sinne Gutachten 1/19 [Übereinkommen von Istanbul] vom 6. Oktober 2021, EU:C:2021:832, Rn. 294, 302 und 303). Somit gehört dieses Übereinkommen, da es einen Zusammenhang mit Asyl und dem Verbot der Zurückweisung aufweist, ebenfalls zu den einschlägigen Verträgen, auf die Art. 78 Abs. 1 AEUV Bezug nimmt.
47 Unter diesen Umständen sind die Bestimmungen dieser Richtlinie, insbesondere ihr Art. 10 Abs. 1 Buchst. d, unter Beachtung des Übereinkommens von Istanbul auszulegen, obwohl dieses Übereinkommen von einigen Mitgliedstaaten, darunter der Republik Bulgarien, nicht ratifiziert worden ist.
48 Insoweit ist zum einen darauf hinzuweisen, dass nach Art. 60 Abs. 1 des Übereinkommens von Istanbul Gewalt gegen Frauen aufgrund des Geschlechts als eine Form der Verfolgung im Sinne von Art. 1 Abschnitt A Ziff. 2 der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt werden muss. [...]
52 Was drittens die zweite Voraussetzung für die Identifizierung einer "bestimmten sozialen Gruppe" angeht, die sich auf die "deutlich abgegrenzte Identität" der Gruppe im Herkunftsland bezieht, ist festzustellen, dass Frauen von der sie umgebenden Gesellschaft anders wahrgenommen werden können und in dieser Gesellschaft eine deutlich abgegrenzte Identität insbesondere aufgrund in ihrem Herkunftsland geltender sozialer, moralischer oder rechtlicher Normen zuerkannt bekommen können.
53 Diese zweite Voraussetzung für die Identifizierung wird auch von Frauen erfüllt, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, wie eines der in den Rn. 50 und 51 des vorliegenden Urteils genannten, wenn die in ihrem Herkunftsland geltenden sozialen, moralischen oder rechtlichen Normen dazu führen, dass diese Frauen aufgrund dieses gemeinsamen Merkmals von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden.
54 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass es Sache des betreffenden Mitgliedstaats ist, zu bestimmen, welche umgebende Gesellschaft für die Beurteilung des Vorliegens dieser sozialen Gruppe relevant ist. Diese Gesellschaft kann mit dem gesamten Herkunftsdrittland der Person, die internationalen Schutz beantragt hat, zusammenfallen oder enger eingegrenzt sein, z. B. auf einen Teil des Hoheitsgebiets oder der Bevölkerung dieses Drittlands. [...]
57 Folglich können Frauen insgesamt als einer "bestimmten sozialen Gruppe" im Sinne von Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 zugehörig angesehen werden, wenn feststeht, dass sie in ihrem Herkunftsland aufgrund ihres Geschlechts physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt und häuslicher Gewalt, ausgesetzt sind. [...]
62 Nach alledem ist auf die ersten drei Fragen zu antworten, dass Art. 10 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass je nach den im Herkunftsland herrschenden Verhältnissen sowohl die Frauen dieses Landes insgesamt als auch enger eingegrenzte Gruppen von Frauen, die ein zusätzliches gemeinsames Merkmal teilen, als "einer bestimmten sozialen Gruppe" zugehörig angesehen werden können, im Sinne eines "Verfolgungsgrundes", der zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft führen kann.
63 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass er, wenn eine antragstellende Person angibt, in ihrem Herkunftsland Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu befürchten, verlangt, dass in jedem Fall eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungshandlungen und mindestens einem der in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründe festgestellt wird. [...]
66 Nach Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 in Verbindung mit deren Art. 6 Buchst. c und Art. 7 Abs. 1 und im Licht des 29. Erwägungsgrundes dieser Richtlinie setzt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft voraus, dass eine Verknüpfung entweder zwischen den in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen im Sinne von Art. 9 Abs. 1 und 2 der Richtlinie oder zwischen diesen Verfolgungsgründen und dem Fehlen von Schutz durch die "Akteure, die Schutz bieten können", vor solchen Verfolgungshandlungen durch "nichtstaatliche Akteure" festgestellt wird.
67 Somit ist im Fall einer von einem nichtstaatlichen Akteur begangenen Verfolgungshandlung die in Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 aufgestellte Voraussetzung erfüllt, wenn diese Handlung auf einem der in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründe beruht, auch wenn das Fehlen von Schutz nicht auf diesen Gründen beruhen sollte. Diese Voraussetzung ist auch dann als erfüllt anzusehen, wenn das Fehlen von Schutz auf einem der in der letztgenannten Bestimmung genannten Verfolgungsgründe beruht, auch wenn die von einem nichtstaatlichen Akteur begangene Verfolgungshandlung nicht auf diesen Gründen beruhen sollte. [...]
70 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass Art. 9 Abs. 3 der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass es, wenn eine antragstellende Person angibt, in ihrem Herkunftsland Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure zu befürchten, nicht erforderlich ist, eine Verknüpfung zwischen einem der in Art. 10 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Verfolgungsgründe und solchen Verfolgungshandlungen festzustellen, wenn eine solche Verknüpfung zwischen einem dieser Verfolgungsgründe und dem Fehlen von Schutz vor diesen Handlungen durch die in Art. 7 Abs. 1 dieser Richtlinie genannten Akteure, die Schutz bieten können, festgestellt werden kann.
71 Mit seiner fünften Frage möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der Begriff "ernsthafter Schaden" die tatsächliche Drohung gegenüber der antragstellenden Person umfasst, durch einen Angehörigen ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen getötet zu werden oder andere Gewalttaten zu erleiden, und dieser Begriff daher zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus im Sinne von Art. 2 Buchst. g dieser Richtlinie führen kann. [...]
80 Nach alledem ist auf die fünfte Frage zu antworten, dass Art. 15 Buchst. a und b der Richtlinie 2011/95 dahin auszulegen ist, dass der Begriff "ernsthafter Schaden" die tatsächliche Drohung gegenüber der antragstellenden Person umfasst, durch einen Angehörigen ihrer Familie oder ihrer Gemeinschaft wegen eines angenommenen Verstoßes gegen kulturelle, religiöse oder traditionelle Normen getötet zu werden oder andere Gewalttaten zu erleiden, und dieser Begriff daher zur Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus im Sinne von Art. 2 Buchst. g dieser Richtlinie führen kann. [...]