BlueSky

VG Köln

Merkliste
Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 08.12.2023 - 12 K 5426/22.A - asyl.net: M32124
https://www.asyl.net/rsdb/m32124-1
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für iranische Staatsangehörige wegen Konversion zur Bahai-Religion:

1. Bahai sind die derzeit im Iran am stärksten in ihren Rechten eingeschränkte Minderheit. Aufgrund der allgemeinen Gefahrenlage, die sich in jüngster Zeit noch verschärft hat, ist von einer konkreten Gefahr für jede einzelne Person auszugehen, die zur Religionsgemeinschaft der Bahai gehört. Die Abwendung vom Islam und die Hinwendung zum Bahaitum führt im Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu religiöser Verfolgung gemäß § 3 Abs. 1 AsylG.

2. Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt eine echte Glaubensentscheidung voraus. Es muss festgestellt werden können, dass die Hinwendung der betroffenen Person zum Bahaitum auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel mit festen, identitätsprägenden Überzeugungen beruht.

3. Eine Bestätigung des Geistigen Rats der Bahai und die Vorlage eines deutschen Mitgliedsausweises der Bahai belegen für sich keine identitätsprägende Hinwendung zum Bahaitum, sondern stellen insofern nur einen zu berücksichtigenden Umstand dar.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Hamburg, Urteil vom 07.10.2020 - 10 A 20/19 - asyl.net: M28946)

Schlagwörter: Iran, Bahai, Konvertiten, religiöse Verfolgung, Mitgliedsausweis, Bescheinigung, identitätsprägend,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

Das Gericht geht entsprechend der gefestigten Erkenntnislage und Rechtsprechung davon aus, dass die Abwendung vom Islam und Hinwendung zum Bahaitum in Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu Verfolgung im Sinne der §§ 3 ff. AsylG führt [...].

Aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 26.02.2020 (S. 13) geht hervor, dass Bahai im Iran als Abtrünnige angesehen werden; sie sind wirtschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Diskriminierung ausgesetzt und stellen derzeit die am stärksten in ihren Rechten eingeschränkte Minderheit dar. [...] Insgesamt ist den Erkenntnisquellen zu entnehmen, dass Bahai im Iran als Anhänger einer vom Islam abgefallenen Sekte betrachtet werden. Angehörige des Bahaitums und insbesondere muslimische Konvertiten, die zum Bahaitum übertreten und sich zu ihrem neuen Glauben bekennen, sind fortgesetzter systematischer Diskriminierung und willkürlicher Behandlung durch staatliche Stellen ausgesetzt, die bis hin zu Festnahmen und Inhaftierungen reicht (vgl. auch Amnesty International, Amnesty Report Iran 2019, S. 6). Diese allgemeine Gefahrenlage, die sich in jüngster Zeit noch verschärft haben soll (vgl. VG Hamburg, Urteil vom 07.10.2020 - 10 A 20/19 - , juris, Rn. 26 m.w.N.) hat sich dahin verdichtet, dass von einer konkreten Gefahr für jeden einzelnen Bahai auszugehen ist [...].

Ein bloß formal vollzogener Übertritt vom islamischen Glauben zum Bahaitum genügt gleichwohl nicht für die Annahme einer dem Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgung [...].

Aus den Erkenntnisquellen ergeben sich keine Anhaltspunkte, dass eine vom Nationalen Geistigen Rat der Bahai in Deutschland ausgestellte Bestätigung über die Mitgliedschaft in der Bahai-Gemeinde den Betroffenen schon für sich genommen der Gefahr aussetzt, im Rückkehrfall Diskriminierungen oder Willkürmaßnahmen der genannten Art zu erleiden.

Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft setzt vielmehr eine echte Glaubensentscheidung des Schutzsuchenden voraus, die im Fall einer Rückkehr trotz der in Iran drohenden Nachteile und Gefahren Bestand hätte und erwarten lässt, dass der Betroffene an seinem neuen Glauben festhält und diesen auch in Iran praktizieren will. Es muss - so auch vorliegend - festgestellt werden können, dass die Hinwendung des Schutzsuchenden zum Bahaitum auf einem ernst gemeinten religiösen Einstellungswandel mit festen, identitätsprägenden Überzeugungen und nicht bloß auf Opportunitätserwägungen beruht. Nur wenn der Glaubenswechsel die religiöse Identität des Schutzsuchenden prägt, ist es ihm nicht zumutbar, seine neue Glaubenszugehörigkeit im Herkunftsland zur Vermeidung staatlicher oder nichtstaatlicher Repressionen zu verschweigen, zu verleugnen oder aufzugeben. Sich hierzu gezwungen zu sehen, würde den Schutzsuchenden in aller Regel existenziell in seiner sittlichen Person treffen und ihn in eine ausweglose, unzumutbare Lage bringen. [...]

Berücksichtigung finden dabei zunächst die Bescheinigung des Nationalen Rates der Bahai in Deutschland vom 29.08.2022 über ihre Mitgliedschaft in der Gemeinde der Bahai; ihr bereits dem Bundesamt vorgelegter [einen deutschen] Mitgliedsausweis der Bahai sowie die Bestätigung des Geistigen Rates der Bahai in ... über die Mitgliedschaft und Betätigung der Klägerin in den Bahai-Gemeinden vom 2023, die für die Überzeugungsbildung der Einzelrichterin allerdings nicht ausreichen. Zwar hat das Gericht keine Zweifel, dass das einer Aufnahme in die Bahai-Gemeinde vorausgehende Verfahren und insbesondere das mit dem jeweiligen Interessenten geführte Gespräch ebenfalls darauf zielen, sich von der Aufrichtigkeit und Ernsthaftigkeit der individuellen Glaubens(-wechsel-)entscheidung zu überzeugen. Auch deutet nichts darauf hin, dass Interessenten vor dem Hintergrund der im Iran für Angehörige des Bahaitums bestehenden Gefährdungssituation "leichtfertig" bzw. aus asyltaktischen Gründen in die Gemeinde aufgenommen würden […].

Im Interesse einer gleichmäßigen Rechtsanwendung ist das Gericht gehindert, die Entscheidung der Bahai-Gemeinde "mechanisch" - ohne eigene Prüfung - zu übernehmen. Die Bestätigung über die Mitgliedschaft in der Bahai-Gemeinde ist weder hinreichende noch notwendige Voraussetzung für die Annahme einer identitätsprägenden Hinwendung des Betroffenen zum Bahaitum, sondern - wie ausgeführt - "nur" ein zu berücksichtigender Umstand. Es ist nicht schlechthin ausgeschlossen, dass eine Person in einer rechtlich als identitätsprägend anzuerkennenden Weise zum Bahaitum übergetreten ist, ohne (schon) in die Bahai-Gemeinde aufgenommen worden zu sein.

Die Anhaltspunkte für eine echte Glaubensentscheidung zugunsten des Bahaitums sind im Fall der Klägerin indes nicht auf die Bestätigung über die Mitgliedschaft in der Bahai-Gemeinde beschränkt. Vielmehr vermochte die Klägerin ihre Beweggründe für die bereits im Iran begonnene und im Kern abgeschlossene Auseinandersetzung mit dem Bahai-Glauben plausibel zu erläutern:

Dass sie im Bahaitum eine im Verhältnis zum Islam "friedlichere" und "liebevolle" den aktuellen Lebensbedingungen der Menschen entgegenkommende Religion gefunden hat und sich so schon im Iran dem Bahai-Glauben endgültig zugewandt hat, erscheint nachvollziehbar. [...]

Insgesamt ist die Einzelrichterin davon überzeugt, dass die Klägerin ihre Hinwendung zum Bahaitum im Fall einer Rückkehr nach Iran nicht verheimlichen bzw. auf eine Betätigung ihres Bahai-Glaubens allenfalls unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungenermaßen verzichten würde.  [...]