Eilrechtsschutz gegen Dublin-Bescheid hinsichtlich Belgien:
Das Aufnahmesystem in Belgien weist systemische Mängel auf. Alleinstehenden schutzsuchenden Männern droht über Wochen Obdachlosigkeit.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
20 2. Allerdings droht dem Antragsteller bei einer Überstellung nach Belgien eine gegen Art. 4 GRCh, Art. 3 EMRK verstoßende Behandlung aufgrund dort bestehender systemischer Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen, sodass der Antragsteller nach Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO nicht nach Belgien überstellt werden kann. [...]
26 b) Das Recht auf Aufnahme und Unterbringung sowie materielle Versorgung besteht in Belgien grundsätzlich ab der Asylantragstellung. Die Angabe im streitgegenständlichen Bescheid, dass nach der Gesetzeslage jeder Asylbewerber in Belgien Anspruch auf materielle Versorgung vom Zeitpunkt der Antragstellung an hat, trifft daher grundsätzlich zu.
27 Allerdings besteht in Belgien seit dem Jahr 2021 aufgrund langjähriger Versäumnisse ein Mangel an Plätzen in den Aufnahmezentren der 1. Stufe.
28 So verkündete die für die Unterbringung von Asylsuchenden zuständige Behörde Fedasil im September 2021, dass das Aufnahmenetzwerk unter Druck sei und die Belegungsrate am 9. September 2021 bei 96% gelegen habe. Aus diesem Grunde würden Familien und Minderjährige bevorzugt behandelt mit der Folge, dass Alleinreisende männliche Asylantragsteller auch nach Asylantragstellung systematisch der Zugang zu den Aufnahmezentren verweigert wurde (AIDA, Country Report Belgium, 2022 update, S. 100f, S. 36). Bis zum März 2022 bekamen alleinstehende Männer noch vereinzelt Zugang zum Aufnahmenetzwerk, seit diesem Zeitpunkt werden sie an dem Tag der Registrierung ihres Asylantrags systematisch hiervon ausgeschlossen. Bevor sie einen Asylantrag gestellt haben werden sie aber nicht als "Asylbewerber" angesehen und können daher bestimmte Rechte die mit diesem Status verbunden sind, wie das Recht auf Aufnahme und Unterbringung, nicht geltend machen (AIDA, a.a.O., S. 36). In der Praxis konnten sie häufig Zugang zu den Aufnahmezentren allein über die Gerichte erlangen. Auch dann dauert es aber noch mindestens 3 Monate, bis sie tatsächlich diesen Zugang haben (AIDA, a.a.O. S. 100). [...]
30 Den abgewiesenen männlichen alleinstehenden Asylsuchenden bleibt, da Obdachlosenunterkünfte in Brüssel vollständig ausgelastet sind, nichts Anderes übrig, als auf der Straße oder unter Brücken zu schlafen und regelmäßig zum Ankunftszentrum zu gehen, in der Hoffnung, Zugang zu einem Aufnahmeplatz zu bekommen (AIDA, a.a.O., S. 100 f.). Diese Zeit, in der sie gezwungen sind auf der Straße zu übernachten kann sich über mehrere Wochen erstrecken. Deshalb kam es in Brüssel zu verschiedenen Hausbesetzungen von Asylbewerbern. So haben zwischen Oktober 2022 und Februar 2023 rund 1000 Personen in der Rue de Palais ein Haus besetzt. Wegen unsicherer Wohnbedingungen und der Verbreitung ansteckender Krankheiten wurde das besetzte Haus im Februar 2023 geräumt. Im Anschluss daran wurden zwischen März und April 2023 2 weitere Gebäude von Asylbewerbern besetzt, die wiederum evakuiert wurden (AIDA, a.a.O. S. 101 f.).
31 Medizinische Hilfsorganisationen haben mehrfach auf die schwierige medizinische Situation der obdachlosen Asylsuchenden hingewiesen. Unter diesen wurden verschiedentlich ansteckende Krankheiten wie Diphtherie oder Krätze festgestellt. Daneben wurden unter ihnen auch chronische nicht übertragbare Krankheiten wie Diabetes, Epilepsie und Bluthochdruck diagnostiziert (AIDA, a.a.O, S. 102).
32 Seit dem Beginn der Krise im Oktober 2021 wurden insbesondere auf den Druck von Nichtregierungsorganisationen zwar verschiedene Anstrengungen zur Lösung derselben unternommen. So wurden beispielsweise 2021 und 2022 neue Aufnahmeplätze eröffnet, die aber für die Gesamtzahl der Asylbewerber nicht ausreichten. In einem Urteil vom 19. Januar 2022 entschied das Gericht der ersten Instanz von Brüssel, dass der belgische Staat und Fedasil den Zugang zum Asylverfahren und zu Aufnahmebedingungen nicht sicherstelle, ordnete an, dass beide den Respekt vor diesen fundamentalen Rechten sicherstellen sollten und setzte eine Strafe von 5000 EUR pro Tag während der folgenden 6 Monate fest, in denen mindestens eine Person keinen Zugang zum Asylverfahren bekäme. Auch in der Folgezeit kam es jedoch nicht zu einer Verbesserung dergestalt, dass asylsuchenden Männern ein Zugang zu den Aufnahmezentren gewährt werden konnte (AIDA a.a.O. S. 19 und 102 ff.; US Department of State, 2022 Human Rights Report Belgium, 20.3.2023, S. 8). Auch im Juli 2023 kam es erneut zu einer Verurteilung durch das Gericht der ersten Instanz von Brüssel (vgl. www.euractiv.de/section/europa-kompakt/news/belgien-wegen-fehlverhalten-imumgang-mit-der-asylkrise-verurteilt/, zuletzt aufgerufen am 2.1.2024).
33 Im August 2023 hat die belgische Staatssekretärin für Asyl und Migration, Nicole de Moor, angekündigt, dass die Föderale Agentur für die Aufnahme von Asylbewerbern (Fedasil) vorübergehend keine Aufnahmeplätze für alleinstehende männliche Asylbewerber mehr zur Verfügung stellen werde, um Familien den Vorrang zu geben und zu vermeiden, dass Kinder im Winter auf der Straße landen. Hiergegen haben mehrere Verbände beim belgischen Staatsrat einen Eilantrag gegen die Entscheidung gestellt. Dieser hat am 13. September 2023 entschieden, dass die Entscheidung rechtswidrig sei und das Recht der Asylbewerber auf Aufnahme verletze. Allerdings erklärte die Staatssekretärin daraufhin umgehend, dass diese Aussetzung des Staatsrats nicht dafür Sorge, dass plötzlich Platz für alle da sei. (vgl. https:/www.euractiv.de/section/europa-kompakt/news/belgien-darf-alleinstehenden-maennlichen-fluechtlingen-aufnahme-nicht-verweigern/, zuletzt besucht am 2.1.2024).
34 Im Dezember 2023 warteten ausweislich eines Berichts des Belgisches Rundfunk- und Fernsehzentrums der Deutschsprachigen Gemeinschaft (BRF) 2600 meist allein stehende Männer auf eine Unterbringung, weshalb Amnesty International dazu aufrief, per E-Mails die Regierung unter Druck zu setzen (https://b... zuletzt besucht am 2.1.2024) Anhaltspunkte dafür, dass dieser Zustand im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) nicht mehr andauert, liegen dagegen nicht vor (vgl. auch Süddeutsche Zeitung v. 4.9.2023, "Warum Belgien systematisch gegen das Recht von Migranten verstößt", www...., zuletzt besucht am 2.1.2024). Auch die von der Europäischen Asylagentur (EUAA) herausgegebenen Informationen über das Verfahren bei Dublin-Überstellungen nach Belgien (Stand 24.4.2023), die zusammen mit der belgischen Einwanderungsbehörde erarbeitet wurden, weisen auf Seite 2 (unten) ausdrücklich darauf hin, dass Fedasil einen Platz im Aufnahmesystem wegen des großen Drucks auf das belgische Aufnahmesystem nicht garantieren kann und dass derzeit unbegleiteten Minderjährigen und Familien mit Kindern und Frauen Vorrang gewährt werde. [...]
37 Der Antragsteller wird daher aller Voraussicht nach über mehrere Wochen gezwungen sein, auf der Straße oder unter Brücken zu nächtigen, bis er nach Asylantragstellung möglicherweise einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung bekommen wird.
38 Hinzu kommt im Falle des Antragstellers, dass er nach der vorgelegten Bestätigung des Klinikums … aktuell unter einer akuten Lungentuberkulose leidet, die, auch wenn die stationäre Behandlung mittlerweile wohl beendet ist, weiterhin mindestens 6 Monate lang ambulant fortgesetzt werden muss. Die alleinreisenden männlichen Asylantragstellern in Belgien drohende Obdachlosigkeit würde ihn aufgrund dieser gesundheitlichen Vorbelastung ungleich härter treffen als die übrigen Mitglieder dieser Gruppe.
39 Hinzu kommt, dass der Antragsteller bis zu seiner Asylantragstellung in Belgien auch von medizinischen Leistungen ausgeschlossen wäre, da er ja noch nicht den Status eines Asylbewerbers innehat. Bei etwaigen Infekten wäre er daher auf sich allein bzw. auf die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen angewiesen. Es steht daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu befürchten, dass er die notwendige Behandlung für seine Tuberkulose in Belgien nicht bekommen wird. [...]