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VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 23.03.2023 - 6 A 181/18 - asyl.net: M32183
https://www.asyl.net/rsdb/m32183
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen "Verwestlichung" eines jungem Mannes:

Unter "Verwestlichung" ist ein Prozess der Persönlichkeitsentwicklung zu verstehen, der während eines mehrjährigen Aufenthalts in Deutschland zu einer Prägung durch ganz andere Wertvorstellungen und Weltanschauungen als im Heimatland führt. Dabei kommt es darauf an, dass diese Entwicklung identitätsprägend ist.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Afghanistan, westlicher Lebensstil, Mann, Flüchtlingsanerkennung,
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

Nach diesen Maßstäben steht zur Überzeugung des erkennenden Einzelrichters fest, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bereits unter dem Gesichtspunkt der sogenannten "Verwestlichung" wegen einer ihm von den Taliban zugeschriebenen religiösen und tatsächlichen weltanschaulichen Haltung Verfolgungshandlungen in Form von körperlicher Gewalt und Gefahren für Leib und Leben drohen.

Zu der Frage der Situation von Rückkehrern in Afghanistan und einer flüchtlingsrelevanten "Verwestlichung" im Lichte der Machtübernahme durch die Taliban hat das Verwaltungsgericht Freiburg (Breisgau) in seinem Urteil vom 21. September 2021 (- A 14 K 9391/17 -, juris Rn. 35 - 53) ausgeführt:

"Dabei ist für den unter dem – ambivalenten und eher diffusen – Schlagwort "Verwestlichung" zusammengefassten Prozess nicht vorrangig auf äußere, ggf. veränderliche Merkmale wie Kleidung, Frisur etc. abzustellen, sondern auf die Persönlichkeitsentwicklung des Klägers, die während eines mehrjährigen Aufenthalts in Deutschland, zumal in der Phase des Erwachsenwerdens, eine Prägung durch ganz andere Wertvorstellungen und Weltanschauungen erfahren hat, als wenn er diese Jahre in seinem Heimatland verbracht hätte. Mit seinen so im westlichen Ausland geprägten persönlichen Vorstellungen und politischen Überzeugungen würde er sich gegen die in seinem Herkunftsland maßgeblichen religiösen und traditionellen Regeln stellen. Eine erzwungene Verleugnung dieses Teils seiner Persönlichkeit, um Verfolgungsakteure von einer gänzlich den dortigen Regeln entsprechenden islamischen Haltung in allen wesentlichen Lebensbereichen trotz seines langen Aufenthalts im Westen zu überzeugen, würde den Kern seiner Persönlichkeit betreffen und ihn damit in seiner Menschenwürde verletzen. [...]"

Diesen Ausführungen schließt sich das erkennende Gericht nach eigener Prüfung und Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel an [...].

Es ist jedoch hervorzuheben, dass eine asylrechtlich relevante "Verwestlichung" allein durch den bloßen Aufenthalt in der Bundesrepublik ebenso wenig anzunehmen ist wie allein aufgrund äußerer, ggf. veränderlicher Merkmale wie Kleidung und Frisur. Es kann nicht pauschal unterstellt werden, dass ein Ausländer aus Afghanistan allein aufgrund eines mehrjährigen Aufenthalts in Deutschland in einem solchen Maße westlich geprägt ist, dass er entweder nicht mehr dazu in der Lage wäre, bei einer Rückkehr nach Afghanistan seinen Lebensstil den dort erwarteten Verhaltensweisen und Traditionen anzupassen, oder dass ihm dies infolge des erlangten Grades seiner westlichen Identitätsprägung nicht mehr zugemutet werden könnte. Die Annahme eines westlichen Lebensstils ist dabei nur dann beachtlich, wenn er die betreffende Person in ihrer Identität maßgeblich prägt, d. h. auf einer ernsthaften und nachhaltigen inneren Überzeugung beruht. Es ist daher erforderlich eine identitätsprägende "Verwestlichung" nach den konkreten Umständen des Einzelfalles zu untersuchen [...].

In Anwendung dieser Grundsätze steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger aufgrund seiner Wertvorstellungen, seines Verhaltens, seiner Sozialisierung im Ganzen und seines Erscheinungsbildes nicht in der Läge wäre, sich bei einer Rückkehr in Afghanistan an die dortigen Lebensverhältnisse so anzupassen, dass er nicht in den Verdacht geraten würde, westliche Verhaltensweisen und Wertvorstellungen übernommen zu haben und sich damit im Widerspruch zu den radikal-fanatischen religiösen Vorstellungen des Taliban-Regimes zu setzen, bzw. ihm eine Anpassung nicht zumutbar wäre, weil dies erforderlich machte, von ihm verinnerlichte Werte zu verleugnen, die den Kern seiner Persönlichkeit betreffen. Dabei beachtet das Gericht die Maßgaben des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, wonach es einem Rückkehrer grundsätzlich zumutbar ist, zurückhaltend aufzutreten, um Stigmatisierungen zu vermeiden, zumal sich ein Rückkehrer auch im Westen auf eine für ihn fremde Gesellschaft einstellen musste und insoweit bereits Erfahrungen gesammelt hat [...].

Der Kläger hat im Rahmen der informatorischen Anhörung während der mündlichen Verhandlung bekundet, dass die zurückliegenden circa Jahre seit der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im Alter von 20 Jahren ihn insgesamt und maßgeblich und so weitgehend in seiner Persönlichkeit geprägt hätten, dass ihm ein Leben in der von der Herrschaft der Taliban geprägten islamischen Gesellschaft in Afghanistan unmöglich und unzumutbar sei, weil dies erforderlich machte, die von ihm verinnerlichte freiheitliche Lebensweise und von ihm verinnerlichte Wertvorstellungen zu verleugnen. [...]

Nach alledem hat der erkennende Einzelrichter die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger im Falle seiner Rückkehr ins Herkunftsland seine hier in den zurückliegenden circa sieben Jahren als Heranwachsender bzw. junger Erwachsener erlangte Prägungen und gewonnene Überzeugungen, die untrennbar mit seiner Persönlichkeit verbunden sind, nicht verbergen könnte und ihm infolgedessen ein ernsthafter Schaden in Form von körperlicher Gewalt durch die Taliban droht. Ihm wird es hierbei insbesondere nicht gelingen, sich an die momentanen Lebensverhältnisse in Afghanistan anzupassen, ohne in den Verdacht zu geraten, westliche Verhaltensweisen und Wertvorstellungen übernommen zu haben. Ihm droht daher Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung sowie einer ihm von den Taliban unterstellten religiösen Einstellung in Form eines Glaubensabfalls. [...]

Überdies besteht für den Kläger keine interne Schutzalternative nach § 3e AsylG, da die Taliban das gesamte Land beherrschen und von dem Kläger vor dem Hintergrund seiner individuellen Situation nicht vernünftigerweise erwartet werden kann, sich in einer der afghanischen Großstädte oder einem anderen Ort außerhalb seiner Ursprungsregion niederzulassen. Der Kläger würde in jedem Landesteil Afghanistans als Heimkehrer aus dem Westen auffallen. [...]