Subsidiärer Schutz für staatenlosen Palästinenser aus dem Gaza-Streifen:
"1. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Klärungsbedürftigkeit ist gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG bei einem Antrag auf Zulassung der Berufung der Zeitpunkt der Entscheidung des Senats (Rn. 4).
2. Die Frage, ob die Auseinandersetzungen zwischen den im Gaza-Streifen agierenden gewaltbereiten Gruppen und den israelischen Streitkräften die Voraussetzungen eines bewaffneten Konflikts im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erfüllen, die jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit aussetzt, bedarf zum gegenwärtigen Zeitpunkt keiner Klärung in einem Berufungsverfahren und ist zu bejahen (Rn. 7) (Rn. 8) (Rn. 9)."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
6-8 1. Soweit die Beklagte geklärt wissen will, "ob die Auseinandersetzungen zwischen den im Gaza-Streifen agierenden gewaltbereiten Gruppen und den israelischen Streitkräften die Voraussetzungen eines bewaffneten Konflikts im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG erfüllen, die jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ihres Lebens oder ihrer Unversehrtheit aussetzt?", ist diese Frage, ohne dass sie einer Klärung im Berufungsverfahren bedarf, zu bejahen. Nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 hat der israelische Ministerpräsident N. den Kriegszustand erklärt. Israel reagierte mit Bombardierungen des Gazastreifens. Bereits bis zum späten Sonntag (den 8. Oktober 2023) hatten die israelischen Luftangriffe 159 Wohneinheiten im Gazastreifen zerstört und 1.210 weitere schwer beschädigt [...]. Seit Anfang November läuft die Bodenoffensive der israelischen Soldaten in Gaza [...]. Laut Medienberichten vom 11. November 2023 soll die sog. Gesundheitsbehörde Gazas, die sich vollständig unter der Kontrolle der Hamas befindet, von mehr als zehntausend im Gazastreifen getöteten Palästinensern berichtet haben [...]. Zwar lassen sich diese Angaben nicht unabhängig überprüfen. Allerdings werden diese Zahlen aufgrund früherer Erfahrungen für realistisch gehalten [...].
9 Es ist auch nicht mit einem baldigen Ende des Krieges und einer Entspannung der Lage zu rechnen. [...] Anhaltspunkte für eine gegenteilige Einschätzung hat auch die Beklagte nicht vorgetragen. Sie hat sich lediglich "auf den Regelungsgehalt des § 24 Abs. 5 AsylG" berufen. Diese Regelung räumt dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bei einer "vorübergehend ungewissen Lage" im Herkunftsland die Möglichkeit ein, die Entscheidung über den Asylantrag über die in § 24 Abs. 4 AsylG genannten Fristen hinaus aufzuschieben. Eine weitergehende Bedeutung - insbesondere für die Beurteilung der subsidiären Schutzberechtigung im Rahmen eines auf § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG gestützten Zulassungsantrags - lässt sich der Regelung nicht entnehmen. Für die Zuerkennung subsidiären Schutzes ist zu prüfen, ob dem Betroffenen die in der Regelung angesprochenen Gefahren oder Schäden gegenwärtig oder in absehbarer Zeit drohen [...]. Die am 1. Januar 2023 in Kraft getretene Neuregelung des § 24 Abs. 5 AsylG hat hierauf keinen Einfluss. Aus der Regelung ergibt sich auch nicht, dass der Senat mit seiner Entscheidung über den Zulassungsantrag abzuwarten hätte, bis sich die Situation im Herkunftsland stabilisiert hat. Im Übrigen hat die Beklagte eine entsprechende Aussetzung des Verfahrens auch nicht beantragt.
10-12 2. Auch die weitere Frage der Beklagten, "ob innerhalb des Gaza-Streifen interne Schutzmöglichkeiten im Sinne des § 3e AsylG, insbesondere im Landesinneren, wie beispielsweise in den Städten R-Stadt oder K-Stadt bestehen?", stellt sich zum für die Beurteilung maßgeblichen aktuellen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats nicht. Gegenwärtig bestehen keine zumutbaren internen Schutzmöglichkeiten. Die Lage ist im gesamten Gaza-Streifen schlecht. Etwa 1,5 Millionen Menschen sind aus ihren Häusern und Wohnungen geflohen. UNRWA-Unterkünfte im Süden sind laut OCHA überfüllt, 160 Menschen müssten sich im Schnitt eine Toilette teilen, 700 Menschen eine Duschanlage. Die Wasserknappheit im Gazastreifen ist gravierend. Eine von zwei Anlagen zur Meerwasserentsalzung sollen wegen Treibstoffmangels abgeschaltet worden sein, während die andere OCHA zufolge nur zu einem Minimum betrieben würden. Der Gazastreifen verfügt nach OCHA-Angaben über Weizenvorräte, die für zwölf Tage ausreichen sollten. Doch die einzige funktionierende Mühle kann wegen Strom- und Treibstoffmangels kein Mehl herstellen. Vorräte an Pflanzenöl, Hülsenfrüchten, Zucker und Reis seien nicht mehr vorhanden. Die Menschen müssten im Schnitt vier bis sechs Stunden lang anstehen, um Brot zu bekommen. [...]