Flüchtlingsanerkennung für Frau aus Liberia wegen drohender Genitalbeschneidung/-verstümmelung:
1. Die Genitalbeschneidung/-verstümmelung von Frauen ist in Liberia weiterhin und insbesondere unter Angehörigen der Volksgruppe der Bassa weit verbreitet.
2. Die alleinstehende Klägerin würde nur dann eine Existenzgrundlage erlangen können, wenn sie sich in die Hände ihrer Familie bzw. der Familie des Ehemanns begeben würde, wo ihr wiederum Genitalbeschneidung/-verstümmelung droht. Deshalb besteht keine Möglichkeit internen Schutzes gemäß § 3e Abs. 1 AsylG innerhalb Liberias.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Vorliegend hat die Klägerin eine individuelle Vorverfolgung im vorgenannten Sinn glaubhaft machen können. [...] Dabei hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar geschildert, wie es ihren Eltern gelungen ist, sie von Zuhause weg an den "heiligen" Ort zu lotsen, an dem die Beschneidung dann an ihr vorgenommen werden sollte. So war ihr Onkel, ein Bruder ihres Vaters, verstorben und man hat ihr vorgemacht, die Reise ginge zu der Beerdigung; stattdessen hat man die Klägerin zu dem Beschneidungsritual gebracht. Dort angekommen, hat dann insbesondere ihre Mutter darauf gedrungen, dass die Klägerin beschnitten werden soll.
Die Klägerin hat nachvollziehbar dargelegt, dass es offensichtlich ihrem Ehemann nicht darauf ankam, dass seine Ehefrau beschnitten ist. Allerdings wird aus den in sehr starker, nachvollziehbar emotionaler Art und Weise getätigten Schilderungen der Klägerin deutlich, dass es letztendlich ihre Eltern waren, sie durch Täuschung und letztlich unter Gewalteinwirkung dazu zu zwingen, die offenbar von denen so gesehene gesellschaftliche Schande, dass die Klägerin nicht beschnitten war, auch gegenüber der Familie ihres Ehemannes zu tilgen. [...]
Nachdem die örtliche Polizei sich dann geweigert hatte, sich in die familiären bzw. Stammesangelegenheiten bezüglich der Klägerin einzumischen, ihr jegliche Hilfe verweigert hat und sich die Klägerin somit völlig auf sich allein gestellt irgendwie in Sicherheit bringen musste, hat sie sich in eine Art Obdachlosenunterkunft begeben, wo sie dann als alleinstehende, offensichtlich schutzlose junge Frau Opfer einer Vergewaltigung durch 5 Männer geworden ist. Hinzu kommt, dass die Klägerin als Angehörige des Bassa-Volkes ist, das massiv darauf setzt, dass alle seine weiblichen (und männlichen) Angehörigen beschnitten werden [...]. Die Klägerin hat nach ihren Angaben zuletzt in ... gelebt und hatte sich als Angehörige der Bassa islamischen Glaubens den bestehenden gesellschaftlichen Strukturen, zu denen auch die traditionelle Geheimgesellschaft für Frauen (Sande), die junge Mädchen an einen heiligen Ort außerhalb der städtischen und dörflichen Strukturen bringen und sie dort unter anderem auf den Übergang von der Kindheit ins Erwachsenenalter unter Durchführung der Genitalbeschneidung (FGM/C) vorbereiten, damit sie sich als willensstarke, leidensfähige und beherrschte Frauen weisen, gehört, trotz ihrer eher städtischen Herkunft diesen Konventionen zu fügen und gehört somit zu den Frauen in Liberia, bei denen die Wahrscheinlichkeit einer Genitalbeschneidung sehr hoch ist. Diesem dort ausgeübten hohen sozialen Druck konnte sich die Klägerin nachvollziehbar nur durch die eigenverantwortliche Flucht von dem "heiligen Ort" und die damit verbundene völlige Loslösung von ihren bisherigen familiären Strukturen und sozialen Bindungen entziehen. [...]
Damit ist eine Verfolgung durch unmittelbare, weil für die Klägerin gleichsam schon mit den Händen zu greifende Bedrohung mit physischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, in Gestalt von einer Verstümmelung der Sexualorgane gegeben.
Eine Privilegierung der Vorverfolgten erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie (Richtlinie 2011/95/EU vom 13.12.2011). Eine bereits erlittene Vorverfolgung, ein erlittener bzw. drohender sonstiger ernsthafter Schaden, sind danach ernsthafte Hinweise darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist bzw. dass die Ausländerin tatsächlich Gefahr läuft, einen ernsthaften Schaden zu erleiden. Eine der bereits erlittenen Verfolgung gleichzustellende, unmittelbar, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung setzt eine Gefährdung voraus, die sich schon so weit verdichtet hat, dass die Betroffene für ihre Person ohne Weiteres mit dem jederzeitigen Verfolgungseintritt aktuell rechnen muss [...]. Dies gilt nur dann nicht, wenn stichhaltige Gründe dagegen sprechen, dass die Ausländerin erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. [...]
Nach diesen Maßstäben droht der vorverfolgt ausgereisten Klägerin nach Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr nach Liberia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine erneute geschlechtsspezifische Verfolgung gemäß §§ 3 Abs. 1, 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG aufgrund einer drohenden Zwangsbeschneidung (FGM).
Es erscheint dem Gericht beachtlich wahrscheinlich, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Liberia weiterhin eine solche Verfolgung droht. Ausgehend davon, dass die Klägerin sich angesichts der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lage in Liberia als alleinstehend zurückkehrende ..-jährige Frau ohne örtliche Schulbildung und insoweit damit verbundene Sozialisierung in Liberia und ohne jegliche Erfahrung bezüglich eines selbstständigen Lebens als Frau in Liberia aller Voraussicht nach keine eigene Existenz aufbauen kann, sondern sich wieder in die traditionellen und rituellen Strukturen ihres Stammes und insbesondere ihrer Familie begeben muss, um nicht zu den Geächteten und von der liberianischen Gesellschaft Ausgestoßenen zu gehören, steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin bei einer Rückkehr nach Liberia unmittelbar wieder dem enormen sozialen Druck ausgesetzt ist, nunmehr aber endlich die auch auf die gesellschaftliche Anerkennung ihrer eigenen und der Familie ihres Ehemannes "abfärbende" Genitalbeschneidung an sich vornehmen zu lassen.
Eine realistische Chance, sich diesem Druck zu entziehen, hat die Klägerin bei einer Rückkehr nach Liberia gerade nicht. [...] Obwohl die Regierung FGM routinemäßig in Diskussionen über Gewalt gegen Frauen anprangert, gibt es in Liberia weiterhin keine Gesetze, die diese Praktik unter Strafe stellen. Auch berichten Vertreter von Nichtregierungsorganisationen, dass in der Legislative wenig politischer Wille besteht, sich des Themas FGM anzunehmen. Die unabhängige nationale Menschenrechtskommission berichtet von einer deutlichen Zunahme schädlicher traditioneller Praktiken sogar noch im Jahr 2021 [...]. Die Durchführung der Genitalbeschneidung an Mädchen und Frauen bleibt ein Problem in Liberia und trägt zur Müttersterblichkeit bei [...].
Auch das Alter der Klägerin von ... Jahren setzt die Wahrscheinlichkeit nicht herab, dass sie bei einer Rückkehr nach Liberia beschnitten wird, denn nach den Daten des britischen National FGM Center beträgt die Quote der beschnittenen Frauen bei den 15- bis 18-jährigen Mädchen 31,1 %, bei den Frauen im Alter von 15-49 Jahren jedoch 49,8 % und als praktizierende ethnische Gruppe wird ausdrücklich der Volksstamm der Bassa, dem die Klägerin angehört, genannt [...]. Daraus folgt zwangsläufig, dass bei fast der Hälfte der Frauen die Beschneidung erst im Erwachsenenalter vorgenommen wird. Zudem ist die Klägerin noch im gebärfähigen Alter.
Damit besteht die hinreichende Wahrscheinlichkeit einer erneuten geschlechtsspezifischen Verfolgung der Klägerin bei einer Rückkehr nach Liberia. [...]
Die Klägerin hat in Liberia keine innerstaatliche Ausweichmöglichkeit im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG, denn - wie bereits dargelegt - ist sie als voraussichtlich alleinstehend zurückkehrende ..-jährige Frau mit niedrigem Bildungsstand ohne Berufsausbildung und Berufserfahrung lediglich in einem kaum existenzsichernden Segment als Straßenhändlerin von Flipflops mit der Volkszugehörigkeit Bassa auf sich allein gestellt und würde nur dann wirtschaftlich im Hinblick auf das Existenzminimum Fuß fassen können, wenn sie sich erneut in die Hände ihrer Familie oder der Familie ihres Ehemannes begeben würde, zumal die Tochter der Klägerin, die sie von ihrem bei einem Unfall verstorbenen vorherigen Partner hat, in der Familie ihrer Eltern lebt, weshalb die Klägerin deren Zwangsbeschneidung befürchtet.
Der Klägerin steht mithin die Flüchtlingseigenschaft zu. [...]