Abschiebungsverbot für jungen Mann aus Afghanistan:
Auch ein junger, gesunder, arbeitsfähiger Mann mit solider Schulbildung wird ohne leistungsfähiges familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk nicht in der Lage sein, eine Existenzgrundlage in Afghanistan zu erlangen, sodass das Bestehen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG festzustellen ist.
(Leitsätze der Redaktion)
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3. Der Abschiebung des Klägers steht jedoch ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG entgegen. [....]
Bereits vor der Machtübernahme der Taliban waren die allgemeinen Lebensbedingungen in Afghanistan so schlecht, dass von vielen Menschen, insbesondere vulnerablen Personen (wie z. B. Familien mit Kindern) nicht zu erwarten war, dass sie sich in zumutbarer Weise ein Leben wenigstens am Rande des Existenzminimums erwirtschaften können. [...]
Auf dieser Grundlage ging das Gericht schon vor der Machtübernahme der Taliban davon aus, dass die Existenzsicherung in Afghanistan auch einem jungen, gesunden, alleinstehenden und arbeitsfähigen Mann nicht mehr gelingen wird, sofern dieser in Afghanistan nicht über ein tragfähiges soziales/familiäres Netzwerk oder aus anderen Gründen über eine besondere Durchsetzungsfähigkeit verfügt. Eine solche Durchsetzungsfähigkeit kann z. B. angenommen werden aufgrund besonderer Vermögenswerte, besonderer Ressourcen, besonderer Fertigkeiten, besonderen organisatorischen, strategischen und menschlichen Geschicks oder einer besonderen Robustheit, wie sie das Verhalten des Rückkehrers im heimischen Kulturkreis oder im Gastland belegt. [...]
Seit der Machtübernahme der Taliban haben die formelle als auch die informelle Wirtschaft durch die Unterbrechung der Finanz- und Handelsmechanismen, den Kaufkraftverlust aufgrund der verlorenen Lebensgrundlage und den plötzlichen Rückgang der direkten internationalen Entwicklungshilfe, die zuvor 75 % der öffentlichen Ausgaben ausgemacht haben, dramatisch gelitten. Die hohe Arbeitslosigkeit und die anhaltende Inflation der wichtigsten Rohstoffpreise haben dazu geführt, dass sich die Verschuldung des Durchschnittshaushalts seit 2019 versechsfacht hat und für städtische Haushalte seit 2021 um 44 % gestiegen ist. [...]
Hieran gemessen ist die Einzelrichterin unter Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Hinblick auf den Kläger davon überzeugt, dass dieser bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine hinreichende Lebensgrundlage nicht vorfinden würde.
Der Kläger ist zwar jung, alleinstehend und arbeitsfähig. Jedoch geht die Einzelrichterin davon aus, dass es für den Kläger nach seiner Ankunft in Afghanistan nicht möglich sein wird, auf ein leistungsfähiges familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk zuzugreifen. Er hat sowohl im Verwaltungsverfahren als auch in der mündlichen Verhandlung nachvollziehbar und glaubhaft geschildert, in Iran geboren worden und dort auch aufgewachsen zu sein. Er sei noch nie in Afghanistan gewesen. Fast seine gesamte Familie lebe auch weiterhin in Iran. Er habe eine Tante väterlicherseits in Afghanistan. Zu ihr habe er jedoch keinen Kontakt. Auch wisse er gar nicht, wo genau sich die Tante in Afghanistan aufhalte. Ohne familiäres oder soziales Netzwerk wird es dem Kläger nicht gelingen, sich in den afghanischen Arbeitsmarkt zu integrieren und sein Auskommen im Herkunftsland zu sichern. Für den Kläger kommt erschwerend hinzu, dass er in Iran aufgewachsen und daher mit den afghanischen Sitten und Gebräuchen nicht vertraut ist. Auch sonstige, den Kläger besonders begünstigende Umstände, die ihm eine Sicherung des Existenzminimums ermöglichen würden, sind für die Einzelrichterin nicht ersichtlich. Zwar verfügt der Kläger über eine solide Schulbildung. Jedoch wird allein dieser Umstand den Kläger nach der Überzeugung der Einzelrichterin nicht dazu befähigen, sich unter den gegenwärtigen Bedingungen auf dem hart umkämpften afghanischen Arbeitsmarkt durchzusetzen. Vor diesem Hintergrund ist insgesamt zu befürchten, dass der Kläger nach einer Rückkehr in sein Herkunftsland in eine ausweglose Lage geraten würde. [...]