Flüchtlingsanerkennung wegen Zusammenarbeit mit internationalen Truppen in Afghanistan:
1. Zivile Mitabeiter*innen, die im Umfeld der internationalen Streitkräfte in Afghanistan gearbeitet haben, gehören zu den besonders durch Übergriffe der Taliban gefährdeten Personen. Es ist aber nicht generell von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung (aller) ehemaligen ISAF-Mitarbeiter*innen oder aller Personen im Umfeld der internationalen Streitkräfte und Organisationen auszugehen. Vielmehr sind die Umstände des Einzelfalls in den Blick zu nehmen und zu prüfen, ob sich aus der früheren Tätigkeit und ggf. aus weiteren gefahrerhöhenden Momenten eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit ergibt.
2. Einer Person, die in nicht völlig untergeordneter Position auf einem zunächst von der Bundeswehr kontrollierten Flughafen gearbeitet hat, droht bei Rückkehr Verfolgung durch die Taliban, weil ihr eine Zusammenarbeit mit den am Flughafen tätigen internationalen Kräften zumindest unterstellt wird. Dabei ist unerheblich, dass sie nicht direkt mit der Bundeswehr oder später UNAMA zusammengearbeitet hat.
3. Die Taliban haben vielfältige Methoden, um an sensible Daten von Personen, die Risikogruppen angehören - insbesondere ehemalige Regierungsmitarbeiter*innen, Sicherheitskräfte und Mitarbeiter*innen internationaler Truppen, Organisationen, Botschaften oder NGOs zu gelangen. Die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ist überdies erhöht, weil Personen, die aus dem westlichen Ausland zurückkehren, besondere Aufmerksamkeit der Taliban auf sich ziehen.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
1. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 1. Hs. Asylgesetz - AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG. [...]
Nach diesen Maßstäben geht die erkennende Einzelrichterin im vorliegenden konkreten Einzelfall davon aus, dass der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchten muss, bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Tätigkeit am Flughafen von … und der ihm hierdurch unterstellten Zusammenarbeit mit internationalen Truppen eine oppositionelle Gesinnung zugerechnet zu bekommen und aufgrund dessen menschenrechtswidriger Behandlung bzw. flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen durch die Taliban ausgesetzt zu sein. Bereits in der Vergangenheit und auch entsprechend aktuellen Erkenntnismitteln gehörten und gehören zivile Mitarbeiter*innen und Hilfskräfte im Umfeld der internationalen Streitkräfte zu den besonders durch Übergriffe der Taliban gefährdeten Personen [...] Es reichen zwar die zur Verfügung stehenden Erkenntnisse zur Überzeugung der Einzelrichterin nicht aus, um generell von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verfolgung (aller) ehemaligen ISAF-Mitarbeiter, Mitarbeiter ausländischer Firmen o.ä. Personen im Umfeld der internationalen Streitkräfte und Organisationen auszugehen. Es sind vielmehr die Umstände des Einzelfalls in den Blick zu nehmen und zu prüfen, ob sich aus der konkreten früheren Tätigkeit und ggf. aus weiteren gefahrerhöhenden Momenten eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit ergibt (vgl. VG Hannover, U. v. 10.11.2022 - 7 A 1888/21 - n. v.).
Dies ist nach Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalles im Falle des Klägers allerdings anzunehmen. [...]
Der oben beschriebenen Gefahr, als Person im Umfeld der internationalen Streitkräfte und Organisationen bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner - mit der Tätigkeit internationaler Streitkräfte am Flughafen von … jedenfalls räumlich verbundenen - Tätigkeit als … eine oppositionelle Gesinnung zugerechnet zu bekommen und aufgrund dessen menschenrechtswidriger Behandlung bzw. flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgungsmaßnahmen durch die Taliban ausgesetzt zu sein, steht auch nicht entgegen, dass der Kläger nicht - wie oben bereits erwähnt - direkt mit den den Flughafen von … bis ins Jahr 2013 kontrollierenden Deutschen und anschließend auch nicht mit den weiterhin präsenten Mitarbeitern von UNAMA zusammengearbeitet hat. Maßgeblich dürfte allein die Tatsache sein, dass der Kläger in dem zunächst von den deutschen Streitkräften kontrollierten Flughafen seine - im Hinblick auf den Flughafenbetrieb auch keinesfalls völlig untergeordnete - Arbeit als … erbracht hat und ihm aufgrund dessen eine Zusammenarbeit mit - wie der Kläger es im Rahmen der mündlichen Verhandlung ausdrückte - den "Foreigners" von den Taliban unterstellt wurde. Aufgrund der vom Kläger beschriebenen Zutrittsbeschränkungen auf dem Flughafen von ist davon auszugehen, dass außenstehenden Personen und damit auch den Taliban seine konkrete Aufgabenzuweisung nicht bekannt war. Daher ist auch durchaus nachvollziehbar, dass diese dem Kläger als ..., welcher nach seinen konsistenten und glaubhaften überwiegend einen als solchen erkennbaren Dienstwagen der Regierung für die Fahrt zum Flughafen genutzt hatte, eine Zusammenarbeit mit den am Flughafen tätigen internationalen Kräften jedenfalls unterstellt haben.
Hinzu kommt im vorliegenden Einzelfall, dass die Taliban - unabhängig davon, ob man diesen Umstand bereits als (drohende) Verfolgungshandlung bzw. Vorverfolgung werten könnte - den Kläger nach dessen glaubhaften Schilderungen vor dessen Ausreise aus Afghanistan bereits konkret ins Visier genommen und mittels eines Drohbriefes zur Aufgabe seiner Arbeit mit den Ungläubigen aufgefordert hatten. [...]
Des Weiteren ist im Einzelfall des Klägers in den Blick zu nehmen, dass auch nach seiner Ausreise aus Afghanistan nach dessen auch insoweit stimmigen Angaben bei einem Überfall auf sein Elternhaus ein Pashto sprechender und mutmaßlich den Taliban zuzuordnender Angreifer noch nach ihm gefragt hatte [...].
Dass die Taliban durchaus vielfältige Methoden haben, um an sensible Daten von Personen, die Risikogruppen angehören - insbesondere ehemaligen Regierungsmitarbeitern, ehemaligen Sicherheitskräften und Mitarbeitern internationaler Truppen, Organisationen, Botschaften oder NGOs - zu gelangen, geht aus den aktuellen Erkenntnismitteln hervor. [...]
Die Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung wird im Fall des Klägers letztlich noch dadurch erhöht, dass ihm als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland nach derzeitigem Erkenntnisstand eine besondere Aufmerksamkeit der Taliban zu Teil würde. In diesem Fall ist es hochwahrscheinlich, dass die vorherige Tätigkeit des Klägers auch unter Berücksichtigung der bereits erfolgten Bedrohungen des Klägers und seiner Familie den Taliban auch nach längerer Zeit der Abwesenheit noch bekannt würde und die Taliban dem Kläger aufgrund dessen und in Anbetracht seines anschließenden Aufenthalts im westlichen Ausland, eine von ihnen missbilligte Gesinnung zuschrieben. Die Verfolgungshandlung knüpft zur Überzeugung der Einzelrichterin an den Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung in Form der aufgrund seiner Tätigkeit am zeitgleich auch von internationalen Kräften genutzten Flughafen in … von den Taliban zugeschriebenen oppositionellen Grundhaltung an. [...]