Rückkehrprognose hinsichtlich EU-Staat umfasst nicht Familienangehörige mit Aufenthaltsrecht in Deutschland:
1. Die Ablehnung eines Asylantrags als unzulässig gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist rechtswidrig, wenn eine Prognose ergibt, dass der betroffenen Person bei Rückkehr in den Staat der Anerkennung entgegen Art. 4 GR-Charta eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung droht. Eine solche Behandlung droht u.a. dann, wenn eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist. Die Prognose kann unterschiedlich ausfallen, je nachdem, ob sie eine Familie oder alleinstehende, erwachsene Personen betrifft.
2. Bei der Prognose, ob eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung entgegen Art. 4 GR-Charta droht, sind dabei nur diejenigen Personen in den Blick zu nehmen, die Adressat*innen der Unzulässigkeitsentscheidung sind. Familienangehörige, deren Aufenthalt in der BRD erlaubt ist, sind bei der Prognoseentscheidung nicht zu berücksichtigen.
3. Das BVerwG hat zwar geurteilt, dass bei der Prüfung von Abschiebungsverboten im Hinblick auf das Herkunftsland im Regelfall davon auszugehen ist, dass in familiärer Gemeinschaft lebende Familienangehörige (Eltern und minderjährige Kinder) nur im Familienverband zurückkehren und bei der Prognose, ob eine Verletzung von Art. 3 EMRK droht, deshalb auch diejenigen Familienangehörigen in den Blick zu nehmen sind, die über ein Aufenthaltsrecht in Deutschland verfügen. Diese Rechtsprechung ist auf die Prüfung einer drohenden Verletzung von Art. 4 GR-Charta im EU-Staat der Anerkennung im Rahmen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG aber nicht zu übertragen.
4. Denn es ist zwar tatsächlich davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet zusammenlebende Kernfamilie im Regelfall nur im Familienverband ausreisen wird, selbst wenn der Aufenthalt einzelner Familienmitglieder im Bundesgebiet erlaubt ist. Und das Grundrecht auf Achtung des Familienlebens aus Art. 7 GR-Charta/Art. 8 EMRK schützt zwar rechtlich auch vor Familientrennungen und vor einer Zwangssituation, in der Betroffene sich zwischen der Aufgabe ihrer eigenen Aufenthaltspositionen in Deutschland oder der Hinnahme einer Familientrennung entscheiden müssen. Allerdings ist der Eingriff in das Recht auf Achtung des Familienlebens hier gerechtfertigt, um Sekundärmigration zu begrenzen. Denn würden Familienangehörige in die Gefahrenprognose einbezogen werden, obwohl sie nicht Adressat*innen der Unzulässigkeitsentscheidung sind, würde das in vielen Fällen die Wahrscheinlichkeit der Prognose einer drohenden grundrechtswidrigen Behandlung im Zielstaat und damit die Wahrscheinlichkeit der Rechtswidrigkeit einer Unzulässigkeitsentscheidung erhöhen, sodass weniger Asylanträge von in einem EU-Staat anerkannten Personen als unzulässig abgelehnt werden könnten.
5. Das Gleiche gilt für die Frage, ob hinsichtlich des EU-Staates der Anerkennung ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG wegen einer drohenden Art. 3 EMRK Verletzung festzustellen ist. Die o.g. Rechtsprechung des BVerwG ist auch insofern nicht auf Fälle von Abschiebungen in einen EU-Mitgliedstaat zu übertragen. Zwar handelt es sich um dieselbe Norm des § 60 Abs. 5 AufenthG. Allerdings ist eine drohende Familientrennung innerhalb der EU nicht so schwerwiegend, weil gegenseitige Besuche für begrenzte Zeiträume rechtlich möglich und nicht selten auch faktisch realisierbar sind.
6. Allerdings ist vorliegend die Abschiebungsandrohung aufzuheben, weil gemäß § 34 Abs. 1 Nr. 4 AsylG [neue Fassung vom 21.02.2024] der Abschiebung das Wohl des Kindes der Betroffenen entgegensteht.
(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: BVerwG, Urteil vom 04.07.2019 - 1 C 45.18 - Asylmagazin 8/2019, S. 311 f. - asyl.net: M27530; anderer Ansicht: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 07.07.2022 - A 4 S 3696/21 - asyl.net: M31148)
[...]
a) Beim Erlass einer Unzulässigkeitsentscheidung führen die Mitgliedstaaten Recht der Union durch und müssen daher die EU-Grundrechtecharta beachten (vgl. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh i.V.m Art. 33 Abs. 2 Buchst. a Verfahrensrichtlinie). Deshalb ist es ihnen untersagt, einen Antrag auf internationalen Schutz gegenüber einem Drittstaatsangehörigen, der bereits in einem anderen Mitgliedstaat internationalen Schutz genießt, als unzulässig abzulehnen, wenn die ernsthafte Gefahr besteht, dass er bei seiner Rückkehr dort in einer Weise behandelt werden würde, die mit seinen Grundrechten nach der EU-Grundrechtecharta unvereinbar ist [...]. In einem solchen Fall ist deshalb bereits die Unzulässigkeitsentscheidung (und nicht erst die Abschiebungsandrohung) rechtswidrig (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 17).
Von praktischer Relevanz ist insoweit Art. 4 GRCh. Die Norm verbietet ausnahmslos insbesondere jede Form unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. [...]
b) aa) Die Anforderungen an eine entsprechende Gefahrenprognose sind streng, sie kommt nur ausnahmsweise in Betracht. [...]
bb) Außergewöhnliche Umstände im vorstehenden Sinne können allerdings vorliegen, wenn in einem Mitgliedstaat namentlich bei der praktischen Umsetzung des Migrationsrechts größere Funktionsstörungen auftreten. [...]
cc) Festgestellte Schwachstellen erreichen die notwendige besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit (mit der Folge, keine Unzulässigkeitsentscheidung nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG treffen zu dürfen) insbesondere erst dann, wenn im betroffenen Mitgliedstaat die Behörden gegenüber Rückkehrern derart gleichgültig sind, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not gerät, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar ist [...].
c) Für die Prognose, ob ein Rückkehrer unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten wird, ist entscheidend, welche Rückkehrsituation ihn in wirtschaftlicher oder karitativer Hinsicht erwartet (aa). In personeller Hinsicht ist hierbei grundsätzlich nur von der Rückkehr des oder der Adressaten der Unzulässigkeitsentscheidung, nicht aber von seiner Rückkehr zusammen mit anderen Familienangehörigen auszugehen (bb). Zu prüfen ist ferner, ob der relevante Wahrscheinlichkeitsmaßstab wegen einer besonderen Verletzlichkeit (Vulnerabilität) abzusenken ist (cc).
aa) In wirtschaftlicher Hinsicht wird die Rückkehrsituation zum einen durch die örtlich vorherrschenden Möglichkeiten geprägt, den eigenen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit auf einem Mindestniveau zu sichern. Hierbei sind alle realistischen Formen der Erwerbstätigkeit zu berücksichtigen. Denn einem Drittstaatsangehörigen ist es im Regelfall zumutbar, auch wenig attraktive oder der Vorbildung nicht entsprechende Arbeiten auszuüben, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen oder die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs während der Touristensaison, ausgeübt werden können (vgl. BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – juris Rn. 29). [...]
bb) In personeller Hinsicht sind für die prognostische Bestimmung der zu erwartenden Rückkehrsituation grundsätzlich nur die konkret betroffenen Adressaten der Unzulässigkeitsentscheidung zu berücksichtigen (personelle Rückkehrsituation), nicht hingegen gegebenenfalls vorhandene andere Familienangehörige [...]. Die personelle Basis der Prognose grundsätzlich auf den oder die Adressaten zu begrenzen, ist Folge der individualrechtlichen Konzeption des unionsrechtlichen Asylrechts (1), einer andernfalls zu erwartenden erheblichen Beeinträchtigung der praktischen Wirksamkeit des unionsrechtlichen Ziels der Begrenzung legaler Sekundärmigration (2) sowie dem Charakter der Sperrwirkung als Ausnahme vom Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens und dem absoluten Charakter von Art. 4 GRCh (3). Der mit dieser Beschränkung verbundene Eingriff in den grundrechtlichen Schutz der Familie ist gerechtfertigt, die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Einwirkung von Art. 6 GG und Art. 8 EMRK auf die Prognosebasis [...] ist nicht zu übertragen (4).
(1) Das Unionsmigrationsrecht geht davon aus, dass über die Durchführung eines Asylverfahrens, das mit einer Sachentscheidung endet, für jeden Drittstaatsangehörigen individuell entschieden wird. Wenn die Richtlinie 2011/95/EU [...] hinsichtlich der Sachentscheidung verlangt, dass ein Antrag auf internationalen Schutz individuell und bezogen auf die Situation des einzelnen Betroffenen zu prüfen ist [...] und nicht allein deshalb Erfolg haben darf, weil ein Familienangehöriger des Antragstellers die begründete Furcht vor Verfolgung hat, wenn der Antragsteller nicht selbst bedroht ist [...], so darf grundsätzlich erst recht nicht die Antwort auf die Frage, ob überhaupt ein solches (Sach-)Verfahren durchzuführen ist, von Dritten abhängig sein. Dies wäre aber der Fall, wenn die personelle Rückkehrprognose um weitere Familienangehörige erweitert würde und im konkreten Fall gerade deshalb die Gefahr einer Behandlung nach Art. 4 GRCh bestehen und eine Unzulässigkeitsentscheidung ausgeschlossen würde. Denn die Folge des Ausschlusses einer Unzulässigkeitsentscheidung bewirkt einen neuen Anspruch auf Sachentscheidung (und damit auch auf einen Wechsel des Zuständigkeitsregimes), unabhängig davon, ob die Prüfung durch das Bundesamt ergebnisoffen oder ob die Schutzgewährung durch den ersten Mitgliedstaat verbindlich ist [...].
(2) Die Begrenzung der personellen Prognosebasis auf den oder die Adressaten der Unzulässigkeitsentscheidung trägt ferner dem Ziel der Regelungen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems am besten Rechnung, die Möglichkeiten legaler Sekundärmigration zu begrenzen und hierdurch die Verwaltungsressourcen der Mitgliedstaaten zu schonen [...].
Die Frage nach der Rückkehr im Familienverband betrifft in einer erheblichen Zahl von Fällen nach der Einreise in die Bundesrepublik gegründete oder vergrößerte Familien. Eine personell erweiterte Prognosebasis ist daher mit einer Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer grundrechtswidrigen Behandlung im Zielstaat und damit dem Ausschluss einer Unzulässigkeitsentscheidung verbunden. Somit begünstigt eine breite Prognosebasis die Legalisierung von Sekundärmigration. Dies ist mit dem auf praktische Wirksamkeit ausgerichteten Unionsrecht und seiner Ziele grundsätzlich nicht vereinbar und muss im Rahmen des primärrechtlich Zulässigen berücksichtigt werden.
(3) Dafür, die Sperrwirkung von Art. 33 Buchst. a Verfahrensrichtlinie nicht nur in ihren sachlichen Umfang (hierzu oben Rn. 20 ff.), sondern auch in ihrem personellen Umfang restriktiv auszulegen, spricht schließlich auch, dass der Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens wegen seiner fundamentalen Bedeutung für das Unionsrecht nur ausnahmsweise durchbrochen werden darf [...]. Außerdem ist Art. 4 GRCh als ein keiner Relativierung zugängliches absolutes Grundrecht eng auszulegen. Ferner ist sein wesentlicher Gehalt auf einen Schutz vor unmenschlicher Behandlung gerichtet; dieser hängt aber weder allein noch auch nur vorrangig von einem erneuten Anspruch auf Sachentscheidung ab. Es ist schließlich auch kein Grund ersichtlich, mittels Art. 4 GRCh den Betroffenen zu ermöglichen, durch eine – wenngleich (familien-)grundrechtlich abgesicherte – Änderung ihrer eigenen Lebensumstände einen Anspruch auf Sachentscheidung und einen Zuständigkeitswechsel zu begünstigen, solange nicht die grundrechtlichen Gewährleistungen zum Schutz der Familie dies verlangen (hierzu sogleich).
(4) Anlass zur Erweiterung der personellen Rückkehrsituation über den oder die Adressaten der Unzulässigkeitsentscheidung hinaus bilden auch nicht die grundrechtlichen Gewährleistungen zum Schutz der Familie, insbesondere Art. 7 CRCh und Art. 8 Abs. 1 EMRK, die insoweit im Wesentlichen wie Art. 6 Abs. 1, 2 GG ausgelegt werden. Zwar schützen diese vor der Zwangslage, die entsteht, wenn nicht alle Mitglieder Adressaten einer Unzulässigkeitsentscheidung und hieran geknüpft einer Rückkehrentscheidung werden, und damit eine Trennung der Familie im Raum steht [a]. Jedoch ist der damit verbundene Eingriff gerechtfertigt [b]. Die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Zusammenhang mit nationalen Abschiebungsverboten hinsichtlich des Herkunftsstaates ist nicht zu übertragen [c].
[a] In tatsächlicher Hinsicht ist davon auszugehen, dass eine im Bundesgebiet zusammenlebende Kernfamilie im Regelfall (nur) im Familienverband ausreisen möchte, und zwar auch dann, wenn einzelnen Mitgliedern bereits in der Bundesrepublik ein Schutzstatus zuerkannt, für sie nationaler Abschiebungsschutz festgestellt oder der Aufenthalt aus anderen Gründen derzeit erlaubt ist. [...] Gerade bei einer Rückkehr in einen anderen Mitgliedstaat wird der Drang zur gemeinsamen Ausreise bestehen, weil dieser meist weniger vertraut sein wird als der Herkunftsstaat, so dass die praktische Relevanz der Familie für eine erfolgreiche Bewältigung widriger Alltagsbedingungen besonders hoch ist. Außerdem ist der Mitgliedsstaat typischerweise trotz festgestellter Funktionsstörungen weniger gefährlich als der Herkunftsstaat; insoweit sind die emotionalen "Hürden" zur Begleitung niedriger.
Auch wenn grundrechtliche Gewährleistungen zum Schutz der Familie anerkanntermaßen keinen Anspruch darauf vermitteln, eine Familie gerade im Inland leben zu können [...], so schützen sie doch einen bestehenden (Kern-)Familienverband vor der Zwangssituation "Aufgabe eigener Aufenthaltspositionen oder Hinnahme der Trennung der Familie" [...]. Denn diese Grundrechte zielen gerade auf den Schutz und die Anerkennung der spezifisch psychologischen und sozialen Funktion familiärer Bindungen [...], wie sie im vorliegenden Kontext zum Tragen kommen.
Vor diesem Hintergrund ist die fehlende Berücksichtigung familiärer Bindung im Rahmen der Prüfung des Art. 4 GRCh mit einem Eingriff verbunden, da sie eine Zwangslage erzeugt und die Trennung einer Familie forciert.
[b] Der Eingriff ist allerdings gerechtfertigt. Die Garantien zum Schutz der Familie aus Art. 7 GRCh und Art. 8 EMRK sind nicht absolut, sondern gegenläufigen Belangen und auch einer konzeptionellen Ausgestaltung durch den Unionsgesetzgeber zugänglich. Der relative Charakter der familienrechtlichen Garantien würde vernachlässigt, steuerten diese die tatsächlich-personelle Prognosebasis im Rahmen des Art. 4 GRCh; denn auf diese Weise würden die Grundrechte mittelbar gegen Einschränkungen immunisiert, obwohl sie selbst gerade nicht schrankenlos gewährt werden. Daher ist die individuell-rechtliche Konzeption des Asylrechts durch den Unionsgesetzgeber ebenso zu akzeptieren wie seine Entscheidung, den asylrechtlichen Schutz von Familien (nur) durch die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu realisieren, Angehörigen Anspruch auf bestimmte Leistungen einzuräumen, die der Wahrung des Familienverbands dienen [...]. Da er auch vor unzumutbarer faktischer Trennung schützt, indem bei einer Rückkehrentscheidung – auch hinsichtlich eines anderen Mitgliedstaats (vgl. Rn. 55) – familiäre Bindungen zu berücksichtigen sind (vgl. Art. 5 Buchst. a, b der Richtlinie 2008/115/EG [...] – Rückführungsrichtlinie), gestaltet er den Schutz der Familie ausreichend effektiv aus und wahrt zugleich sein legitimes Interesse an der Begrenzung von legaler Sekundärmigration. Dass aus Sicht der betroffenen Familien eine einheitliche Sachentscheidung durch den ausgewählten (zweiten) Mitgliedstaat besser wäre, steht dem nicht entgegen; einen Anspruch auf optimale Verwirklichung familiärer Belange besteht im Primärunionsrecht nicht.
[c] Folgerichtig kommt es vor diesem Hintergrund auch nicht in Betracht, die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu übertragen (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris Rn. 16 ff.), wonach im Rahmen von Abschiebungsverboten hinsichtlich des Herkunftsstaats gemäß § 60 Abs. 5 [...] Aufenthaltsgesetz [...] als realitätsnahe Rückkehrsituation im Regelfall eine gemeinsame Rückkehr im Familienverband der Gefährdungsprognose zugrunde zu legen ist [...]. Die vorliegende Konstellation der Sekundärmigration ist rechtlich anders ausgestaltet als die vom Bundesverwaltungsgericht entschiedene Situation des (rein) nationalen Abschiebungsverbots hinsichtlich des Herkunftsstaats. [...]
(5) Vor diesem Hintergrund ist hinsichtlich der Klägerin für die Gefahrprognose von ihrer alleinigen Rückkehr auszugehen. Weder sind Tochter noch Lebensgefährte Adressaten des Bescheids noch liegt ein Fall einer sachwidrigen verfahrensrechtlichen Trennung vor, der eine Ausnahme rechtfertigen könnte. Die Tochter hat überdies ein Aufenthaltsrecht nach § 25 Abs. 3 AufenthG, der Lebensgefährte verfügt gegenwärtig über eine Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylG.
cc) Die Klägerin ist folgerichtig im Rahmen der Gefahrenprognose nach Art. 4 GRCh als alleinstehende Frau anzusehen. Sie gehört weder deshalb noch aus anderen Gründen einer Gruppe besonders verletzlicher (vulnerabler) Personen an, so dass der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit nicht abzusenken ist. [...]
II. Der streitgegenständliche Bescheid ist auch hinsichtlich seiner Nummer 2 rechtmäßig. Nationale Abschiebungsverbote nach Maßgabe des § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG bestehen nicht.
1. Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. [...]
b) Hinsichtlich der personellen Rückkehrsituation, auf die es bei der Rückkehrprognose hinsichtlich einer möglichen, drohenden unmenschlichen Behandlung in einem anderen Mitgliedstaat im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG ebenso ankommt wie bei der von Art. 4 GRCh geforderten Gefahrenprognose im Rahmen von § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, sind ebenfalls nicht alle Mitglieder einer (Kern-)Familie zu berücksichtigen. Die vom Bundesverwaltungsgericht im Jahr 2019 begründete Rechtsprechung zur Berücksichtigung aller Familienmitglieder im Rahmen der Prüfung des § 60 Abs. 5 AufenthG erfasst ausdrücklich nur die Konstellation einer Abschiebung in den Herkunftsstaat. Hinsichtlich einer Rückkehr in einen anderen Mitgliedstaat hat das Bundesverwaltungsgericht in einem Verfahren die Revision zugelassen, aber bislang noch nicht entschieden (vgl. BVerwG, B.v. 22.3.2023 – 1 B 67.22 – juris Rn. 2).
Die besseren Gründe sprechen auch hier dafür, diese Rechtsprechung nicht zu übertragen. Ungeachtet dessen, dass es auch im Rahmen der nationalen Abschiebungsverbote der Funktion eines nicht absolut ausgestalteten grundrechtlichen Familienschutzes besser entsprechen dürfte, ihn nicht zur Steuerung der tatsächlichen Prognosebasis einzusetzen, besteht jedenfalls in den Fällen der Sekundärmigration kein Anlass, die personelle Prognosebasis zu erweitern. Zwar fehlt bei der Prüfung von nationalen Abschiebungsverboten im Rahmen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (vgl. zur Pflicht des Bundesamts § 31 Abs. 3 Satz 1 AsylG) eine unionsrechtliche Prägung, die – wie bei der Gefahrenprognose nach Art. 4 GRCh – für eine adressatenbezogene Prognosebasis spricht. Allerdings ist die Vermeidung von Sekundärmigration auch den Vorschriften des Grundgesetzes nicht fremd. Es gewährt ebenfalls kein Recht auf die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens; Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG regelt für das nationale Asylrecht, dass sich auf seinen Schutz nicht berufen kann, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft oder aus einem anderen sicheren Drittstaat einreist (vgl. BVerwG, U.v. 7.9.2021 – 1 C 3.21 – juris Rn. 15).
Auch vorliegend gibt der grundrechtliche Schutz der Familie keinen Anlass, die personelle Prognosebasis zu erweitern. Denn die Auswirkungen auf die Familie, die mit derjenigen Zwangslage verbunden sind, die durch eine nur einen Teil der Familienmitglieder betreffende Entscheidung über Abschiebungsverbote entsteht, sind bei der Abschiebung in einen Mitgliedstaat der Europäischen Union nicht mit der in den Herkunftsstaat vergleichbar und rechtfertigen daher eine unterschiedliche Prognosebasis trotz Anwendung derselben Norm (§ 60 Abs. 5 AufenthG). Sie sind grundsätzlich weniger schwerwiegend. Zwar kann auch innerhalb der Europäischen Union die durch eine Trennung bewirkte räumliche Distanz zwischen Familienangehörigen erheblich sein. Dennoch sind wechselseitige Besuche für jeweils begrenzte Zeiträume rechtlich möglich und nicht selten auch faktisch realisierbar [...].
III. Nummer 3 des Bescheids ist allerdings rechtwidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie verstößt gegen § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. Die Berufung ist insoweit zurückzuweisen.
1. a) Durch das Gesetz zur Verbesserung der Rückführung (Rückführungsverbesserungsgesetz vom 21. Februar 2024 (BGBl I Nr. 54)) hat der Gesetzgeber auf die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union reagiert, wonach die bisherigen Regelungen für den Erlass einer Abschiebungsandrohung teilweise nicht den Anforderungen der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) genügten [...]. Der Erlass einer Abschiebungsandrohung setzt nach § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. voraus, dass der Abschiebung weder das Kindeswohl noch familiäre Bindungen noch der Gesundheitszustand des Ausländers entgegenstehen. Damit werden die Anforderungen des Art. 5 Rückführungsrichtlinie in das nationale Recht übernommen, der verlangt, dass bei Erlass einer Rückkehrentscheidung die dort genannten Belange gebührend berücksichtigt werden [...].
b) Der Gesetzgeber bringt damit zum Ausdruck, dass nicht nur eine Abschiebungsandrohung in einen Drittstaat [...], sondern auch in einen Mitgliedstaat eine Rückkehrentscheidung im Sinne der Rückführungsrichtlinie darstellt. [...]
Vor diesem Hintergrund ist § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. im Lichte des Art. 5 Rückführungsrichtlinie und der hierzu ergangenen Rechtsprechung auszulegen; auch für die Anwendung des Art. 6 GG bleibt nunmehr Raum.
c) Die Betroffenheit der in der § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG genannten Belange und ihr Gewicht hat das Bundesamt als nach § 35 AsylG für die Abschiebungsandrohung zuständige Behörde beim Erlass der Androhung zu prüfen. [...]
2. Vorliegend steht das Wohl der minderjährigen Tochter, die über einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 3 AufenthG verfügt, sowie die – durch die Tochter mit der Klägerin begründeten – familiären Bindungen der Klägerin der Abschiebungsandrohung im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung entgegen. [...]
Die Tochter ist etwas über … Jahre alt und lebt seit der Geburt bei der Klägerin als ihrer Mutter. Es besteht daher eine emotionale Verbundenheit, die familiäre Gemeinschaft wird – ungeachtet der Beteiligung des Lebensgefährten der Klägerin und Vaters der Tochter hieran – jedenfalls zwischen diesen beiden gelebt. Es besteht eine tatsächliche Lebens- und Erziehungsgemeinschaft. [...]
Da die Abschiebungsandrohung schon deshalb rechtswidrig ist, kommt es im konkreten Fall nicht darauf an, inwieweit auch die Beziehung der Klägerin zu ihrem Lebensgefährten der Abschiebungsanordnung entgegenstehen könnte, obwohl dieser nur über eine Aufenthaltsgestattung verfügt; jedenfalls erfasst der Aspekt der familiären Bindung grundsätzlich auch Bindungen zwischen Erwachsenen (vgl. OVG SH, U.v. 22.6.2023 – 4 LB 6/22 – juris Rn. 97). [...]