Aufhebung eines Dublin-Bescheides wegen traumatisierter Schwester:
1. Gemäß Art. 16 Abs. 1 Dublin-III-VO ist die Bundesrepublik Deutschland für die Prüfung des Asylverfahrens zuständig, obwohl gemäß Art. 18 Abs. 1 Bst. d Dublin-III-VO grundsätzlich Frankreich zuständig wäre. Denn die volljährige Schwester des Klägers ist aufgrund ihrer schweren Traumatisierung und angesichts des Umstands, dass die beiden die letzten überlebenden Familienangehörigen sind, auf dessen Beistand angewiesen.
2. Hinsichtlich der Schwester hatte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zwar ein Dublin-Verfahren in Bezug auf Rumänien durchgeführt, allerdings wurde der Bescheid vom erkennenden Gericht aufgehoben, da sie weder physisch noch psychisch in der Lage wäre, in Rumänien zu überleben und ihr deshalb eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Rumänien entgegen Art. 4 GR-Charta gedroht hätte.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 12.04.2021 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rechtsgrundlage für die angefochtene Unzulässigkeitsentscheidung ist § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, da der Kläger ursprünglich in Frankreich einen Asylantrag gestellt hatte, der erfolglos blieb (Art. 18 Abs. 1 d Dublin III VO).
Zwar ist es zutreffend, dass sowohl die Schwester des Klägers von Rumänien als auch der Kläger von Frankreich illegal nach Deutschland eingereist ist und infolge des in Frankreich gestellten Asylantrages Frankreich grundsätzlich der für die Behandlung des Asylantrages zuständige Mitgliedsstaat ist. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz gilt jedoch, wenn der Ausländer, wie hier, individuelle Gefährdungen im Drittstaat geltend macht, die ihrer außergewöhnlichen Natur nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassungswegen oder Gesetzeswegen berücksichtigt werden können und damit von vorneherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich heraus gesetzt sind [...]
Das Gericht geht zwar nicht von einem Vorliegen systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Frankreich aus; jedoch handelt es sich bei der Schwester des Klägers zweifellos um eine schwer traumatisierte Frau, die somit als vulnerabel einzustufen ist und nach Einstellung ihres Asylverfahrens in Rumänien - insbesondere, nachdem nach Einstellung des Erstverfahrens in Rumänien ein neues Asylgesuch bei Wiedereinreise als Folgeantrag betrachtet würde -, einer konkreten Gefährdung gemäß Artikel 3 EMRK ausgesetzt wäre (vgl. u.a. RR-Report 2021, S. 100; Urt. des VG Braunschweig vom 22.03.2022 - Az.: 6 A 321/22). Dieser Umstand wird besonders deutlich aufgrund der starken Angewiesenheit der Schwester des Klägers auf den Kläger, ohne den sie aufgrund ihrer schweren Traumatisierung und der daraus resultierenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu keinem auf sich gestellten Leben fähig ist. Da die Schwester des Klägers nach Überzeugung des Gerichts weder physisch noch insbesondere psychisch in der Lage wäre, alleine in Rumänien zu überleben, lagen die Voraussetzungen für die Aufhebung des angefochtenen Bundesamtsbescheides zu-nächst im Fall der Schwester und infolgedessen auch für den Kläger vor.
Aufgrund des außergewöhnlich starken Angewiesenseins der schwer traumatisierten Schwester des Klägers, der einer Rückführung nach Rumänien nicht ohne gravierende Gefahren für Leib und Leben zumutbar ist und die nach der Entscheidung des Gerichts vom 29.11.2022 ihr Asylverfahren in der Bundesrepublik Deutschland wird durchführen können, ist festzustellen, dass für den Kläger infolge der extremen familiären Notsituation der Schwester ein Angewiesensein auf den Kläger im Sinne von Artikel 16 Abs. 1 Dublin III-VO zu bejahen ist. Es ist für das Gericht sowohl nach dem vorliegenden Akteninhalt der zugrunde gelegten Akten als auch dem persönlichen Eindruck aus der mündlichen Verhandlung offensichtlich, dass die Schwester des Klägers als einzig überlebende Familienangehörige eines tragischen Bootsunglücks beim ersten Ausreiseversuch für ihr seelisches Überleben auf den Fortbestand des Zusammenlebens mit ihrem Bruder zwingend angewiesen ist. Da im Falle einer getrennten Rückführung beider Geschwister, bzw. auch nur des Klägers mit hoher Wahrscheinlichkeit die Gefahr der Verletzung der durch Artikel 3 EMRK und Artikel 2 Grundgesetz geschützten Rechtsgüter besteht, war auch der Bescheid hinsichtlich des Klägers aufzuheben, obgleich Frankreich im Grundsatz der für ihn zuständige Mitgliedsstaat gewesen wäre, wie die Beklagte zutreffend im angefochtenen Bescheid festgestellt hat. [...]