BlueSky

VG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 08.12.2023 - 17 K 4523/20 - asyl.net: M32284
https://www.asyl.net/rsdb/m32284
Leitsatz:

Rechtswidrige Durchsuchung einer Wohnung: 

Bei einer polizeilichen Maßnahme in einer Gemeinschaftsunterkunft zur Überstellung einer Familie in den zuständigen Mitgliedstaat handelt es sich um eine Wohnungsdurchsuchung, wenn die Polizei, nachdem die Familie in ihren Räumen nicht angetroffen wird, Kleiderschränke und den Kühlschrank öffnen und deren Inhalt sowie den Inhalt eines Briefes registrieren. Diese Handlungen stellen einen gravierenden Eingriff in die Privatsphäre dar, der nicht der Erreichung des eigentlichen Ziels diente und, da keine Gefahr im Verzug war, eines Gerichtsbeschlusses bedurft hätte.

(Leitsatz der Redaktion)

Schlagwörter: Wohnungsdurchsuchung, Aufnahmeeinrichtung, Gemeinschaftsunterkunft, Nachtzeit, Überstellung, Abschiebung,
Normen: AufenthG § 58 Abs. 6, AufenthG § 58 Abs. 8 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

1. Die Klage ist zulässig.

Dabei kann dahinstehen, ob die Fortsetzungsfeststellungsklage analog § 113 Abs. 1 Satz 4 VwGO oder die allgemeine Feststellungsklage nach § 43 VwGO die statthafte Klageart ist. Das für beide Klagearten gleichermaßen erforderliche Feststellungsinteresse ist gegeben. Auch bei – wie hier – in der Vergangenheit liegenden Maßnahmen ist das Feststellungsinteresse insbesondere bei tiefgreifenden Grundrechtseingriffen zu bejahen [...]. Hierunter fallen jedenfalls solche, die schon das Grundgesetz – wie etwa im Falle des Art. 13 Abs. 2 GG – unter Richtervorbehalt gestellt hat [...]. Die Maßnahme der Beklagten in den Zimmern der Wohnunterkunft der Kläger:innen erfüllt diese Voraussetzungen, denn sie ist im Hinblick auf den Schutz der Unverletzlichkeit der Wohnung und den für Durchsuchungen angeordneten Richtervorbehalt gemäß Art. 13 Abs. 1, Abs. 2 GG in besonderer Weise grundrechtsrelevant [...].

2. Die Klage ist auch begründet. Die Maßnahme der Beklagten vom 26. August 2020 stellt eine Wohnungsdurchsuchung dar und war als solche rechtswidrig.

a) Bei den Räumlichkeiten der Kläger:innen in der Wohnunterkunft handelte es sich um eine Wohnung im Sinne von Art. 13 GG und § 58 Abs. 5 ff. AufenthG. [...]

b) Die Maßnahme der Beklagten stellte eine Durchsuchung (Art. 13 Abs. 2 GG) dar. Sie erschöpfte sich insbesondere nicht in einem bloßen Betreten der Wohnung (vgl. § 58 Abs. 5 AufenthG).

aa) Eine Durchsuchung ist das ziel- und zweckgerichtete Suchen staatlicher Organe nach Personen oder Sachen oder zur Ermittlung eines Sachverhalts, um etwas aufzuspüren, was der Inhaber der Wohnung nicht von sich aus offenlegen oder herausgeben will [...]. Die Durchsuchung erschöpft sich nicht in einem Betreten der Wohnung, sondern umfasst als zweites Element die Vornahme von Handlungen in den Räumen [...]. Die gesetzlich zulässigen Durchsuchungen dienen als Mittel zum Auffinden und Ergreifen einer Person, zum Auffinden, Sicherstellen oder zur Beschlagnahme einer Sache oder zur Verfolgung von Spuren. Begriffsmerkmal der Durchsuchung ist somit die Suche nach Personen oder Sachen oder die Ermittlung eines Sachverhalts in einer Wohnung. Eine solche Maßnahme ist mit dem Betreten einer Wohnung durch Träger hoheitlicher Gewalt nicht notwendigerweise verbunden. Eine Wohnung kann auch zur Vornahme anderer Amtshandlungen betreten werden. So ist beispielsweise die Besichtigung einer Wohnung zur Feststellung, ob der Inhaber seinen Beruf ordnungsgemäß ausübt, keine Durchsuchung der Wohnung. Kennzeichnend für die Durchsuchung ist demgegenüber die Absicht, etwas nicht klar zutage Liegendes, vielleicht Verborgenes aufzudecken oder ein Geheimnis zu lüften, mithin das Ausforschen eines für die freie Entfaltung der Persönlichkeit wesentlichen Lebensbereichs, das unter Umständen bis in die Intimsphäre des Betroffenen dringen kann. Demgemäß macht die beim Betreten einer Wohnung unvermeidliche Kenntnisnahme von Personen, Sachen und Zuständen den Eingriff in die Wohnungsfreiheit noch nicht zu einer Durchsuchung […].

bb) Nach diesen Maßstäben stellte die Maßnahme am 26. August 2020 eine Durchsuchung dar. Sie hat in einer für Durchsuchungen typischen Weise in das private Leben der Kläger: innen und die räumliche Sphäre, in der es sich entfaltete, eingegriffen.

Dies gilt mindestens im Hinblick auf die Inaugenscheinnahme des Kontoauszuges des Klägers zu 1., die ausweislich des Maßnahmenvermerks der Beklagten vom 26. August 2020 erfolgt ist. Darin heißt es, in einem der Kleiderschränke sei ein Briefumschlag mit auf den 24. August 2020 datierten und auf den Kläger zu 1. ausgestellten Kontoauszügen der Hamburger Sparkasse gefunden worden. Selbst wenn – wie die Beklagte auf Grundlage der weiteren Stellungnahme des bzw. der eingesetzten Bediensteten vom 7. Dezember 2020 vorträgt – der betreffende Kleiderschrank beim Betreten offen gestanden und ein (bzw. "der") Kontoauszug aus einem auf dem Boden des Schrankes liegenden Briefumschlag zur Hälfte herausgeschaut haben sollte, bedurfte es zur Kenntnisnahme der am 26. August 2020 aktenkundig gemachten Details zu den Inhalten des Kontoauszuges (vgl. Stellungnahme vom 7. Dezember 2020) bzw. der Kontoauszüge (vgl. Vermerk vom 26. August 2020) doch jedenfalls einer genaueren Inaugenscheinnahme. [...]

Daher bedurfte es vorliegend auch keiner weiteren Sachverhaltsaufklärung, etwa durch zeugenschaftliche Vernehmung der eingesetzten Bediensteten der Beklagten, namentlich zu den Umständen, unter denen diese die weiteren im Maßnahmenvermerk vom 26. August 2020 festgehaltenen Erkenntnisse zum Inhalt des – unzweifelhaft von der Beklagten geöffneten – Kühlschranks ("Lebensmittel") und den Kleiderschränken ("Kleidung") gewonnen haben. Im Hinblick auf die in den Kleiderschränken gefundene Kleidung fehlt es im Übrigen auch an jeglichem Vortrag der Beklagten dazu, wie diese Feststellungen getroffen wurden bzw. dass sie überhaupt getroffen werden konnten, ohne dass hierzu Kleiderschränke geöffnet werden mussten: [...]

c) Die Durchsuchung der Wohnung der Kläger:innen war rechtswidrig, denn es lag keine richterliche Anordnung vor und diese war vorliegend auch nicht wegen Gefahr im Verzug entbehrlich (vgl. Art. 13 Abs. 2 GG, § 58 Abs. 8 Satz 1 AufenthG). [...]