Ablehnung eines Chancenaufenthaltsrechts für minderjährige Person:
1. Das Chancenaufenthaltsrecht gemäß § 104c AufenthG ist grundsätzlich auch bei minderjährigen Personen und kleinen Kindern anwendbar.
2. Ist die betroffene Person jedoch so jung, dass nach Ablauf des für 18 Monate gewährten Chancenaufenthaltsrechts der von dem Normzweck verfolgte Übergang in ein gesichertes Aufenthaltsrecht nach §§ 25a oder 25b AufenthG ausgeschlossen ist, liegt ein atypischer Fall vor, sodass die Erteilung der Chancenaufenthaltserlaubnis ausnahmsweise im Ermessen der Behörde steht.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
23 Der Kläger hat keinen Anspruch auf den begehrten Aufenthaltstitel. [...]
24 1. Ein solcher Anspruch besteht nicht auf Grundlage des § 104c Abs. 1 AufenthG. Nach § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG soll einem geduldeten Ausländer abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 1, 1a und 4 sowie Abs. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, wenn er sich am 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten hat und er sich zum einen zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland bekennt und zum anderen nicht wegen einer im Bundesgebiet begangenen vorsätzlichen Straftat verurteilt wurde, wobei Geldstrafen in einem bestimmten Umfang außer Betracht bleiben.
25 Zwar erfüllt der Kläger nach dem Wortlaut der Norm alle Tatbestandsvoraussetzungen, allerdings liegt aufgrund des jungen Alters des Klägers von nur 6 Jahren ein atypischer Fall vor, der im vorliegenden Fall der Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis im Ergebnis entgegensteht.
26 1.1 Der Gesetzgeber hat § 104c Abs. 1 AufenthG als Soll-Regelung ausgestaltet, was bedeutet, dass die Aufenthaltserlaubnis bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen in der Regel zu erteilen ist und eine andere Entscheidung nur bei Vorliegen atypischer Umstände möglich ist. Die Frage, ob im Rahmen von Soll-Vorschriften ein atypischer Ausnahmefall vorliegt, bei dem der Verwaltung ein Rechtsfolgenermessen eröffnet ist, unterliegt in vollem Umfang der gerichtlichen Nachprüfung (vgl. BVerwG, U.v. 17.12.2015 – 1 C 31/14 – juris Rn. 21). Wann von einer atypischen Fallgestaltung auszugehen ist, bestimmt sich nach dem Regelungszweck. Das befristete sog. Chancen-Aufenthaltsrecht nach § 104c AufenthG soll den berechtigten Ausländern die Gelegenheit zum Übergang in ein Bleiberecht auf rechtssicherer Grundlage ermöglichen, indem während des Erteilungszeitraums von 18 Monaten die Möglichkeit zur Erfüllung der Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a oder § 25b AufenthG gegeben wird (BT-Drs. 20/3717 S. 2, 17; BVerwG, B.v. 29.8.2023 – 1 B 16/23 – juris Rn. 4).
27 Atypische Umstände, welche eine abweichende Entscheidung ermöglichen, kommen im Rahmen von § 104c AufenthG damit dann in Betracht, wenn zwar formal die Erteilungsvoraussetzungen für ein Chancen-Aufenthaltsrecht erfüllt sind, aber der gesetzliche Zweck, den Übergang in ein Bleiberecht auf rechtssicherer Grundlage zu ermöglichen, durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erkennbar nicht erreicht werden kann, da in der Gesamtschau die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach §§ 25a, 25b AufenthG augenscheinlich – beispielsweise wegen Fehlens der Integrationsvoraussetzungen – ausgeschlossen ist [...]. Gleiches gilt, wenn ein minderjähriger Ausländer im Anschluss an das Chancen-Aufenthaltsrecht die Voraussetzungen der §§ 25a und 25b AufenthG bereits altersbedingt nicht erfüllen kann [...].
28 Nach diesen Maßstäben hat die Beklagte vorliegend zu Recht einen atypischen Fall angenommen. Entgegen der Auffassung der Bevollmächtigten verneint die Beklagte nicht die grundsätzliche Anwendbarkeit des § 104c AufenthG bei minderjährigen Ausländern. Sie geht vielmehr – insoweit in Übereinstimmung mit der Bevollmächtigten – richtig davon aus, dass der Anwendungsbereich auch minderjährige Ausländer erfasst. Allerdings nimmt die Beklagte ebenfalls rechtmäßig an, dass im vorliegenden Fall aufgrund des jungen Alters des Klägers ein atypischer Fall vorliegt, da nach Ablauf einer für 18 Monate gewährten Aufenthaltserlaubnis der von dem Normzweck verfolgte Übergang in ein gesichertes Aufenthaltsrecht nach §§ 25a oder 25b AufenthG ausgeschlossen ist.
29 1.1.1 Ein anschließendes Aufenthaltsrecht nach § 25a AufenthG ist bereits deswegen ausgeschlossen, da dieses nur Jugendlichen oder jungen volljährigen Ausländern erteilt werden kann (§ 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Jugendliche sind dabei Personen, welche das 14. Lebensjahr vollendet haben und noch nicht älter als 18 Jahre sind [...]. Der Kläger ist zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt des Gerichts jedoch erst 6 Jahre alt und wäre mit Ablauf einer auf 18 Monate erteilten Aufenthaltserlaubnis nach § 104c Abs. 1 AufenthG noch nicht einmal 8 Jahre alt. [...].
30 1.1.2 Ferner ist aufgrund des Alters des Klägers die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG ausgeschlossen. Dies gilt hinsichtlich der Erteilung nach § 25b Abs. 1 Satz 1 AufenthG unabhängig davon, ob dessen Anwendungsbereich für minderjährige Ausländer überhaupt eröffnet ist (vgl. zum Streitstand OVG LSA, U.v. 8.3.2023 – 2 L 102/20 – juris Rn. 90. m.w.N.). Jedenfalls lägen bei dem dann erst etwa 8 Jahre alten Kläger die besonderen Erteilungsvoraussetzungen nicht vor. Zum einen ist angesichts des jungen Alters ausgeschlossen, dass der Kläger dann einen Nachweis über Grundkenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet (§ 25b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) etwa durch Abschluss des bundeseinheitlichen Tests zum Orientierungskurs "Leben in Deutschland" (vgl. Röder in BeckOK MigR, Stand: 15.7.2023, AufenthG § 25b Rn. 37) erbringen kann. Außerdem ist bei einem 8-Jährigen weder eine eigenständige Lebensunterhaltssicherung durch Erwerbstätigkeit noch eine entsprechende positive Prognose einer künftigen Lebensunterhaltssicherung (§ 25b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG) möglich.
31 Im vorliegenden Fall ist überdies eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 4 AufenthG ausgeschlossen, da bei beiden Elternteilen die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b Abs. 1 AufenthG – als notwendige Voraussetzung für eine Titelerteilung nach Absatz 4 – ausgeschlossen ist. [...]
32 1.1.3 Mithin hat die Beklagte rechtmäßig einen atypischen Fall angenommen, da der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck, den Übergang in ein Bleiberecht auf rechtssicherer Grundlage zu ermöglichen, vorliegend nicht erreicht werden kann. [...]
33 1.2 Die Beklagte hat das ihr in der Folge zustehende Ermessen bei der Entscheidung über den Antrag des Klägers in rechtlich nicht zu beanstandender Weise ausgeübt. [...]
35 Danach begegnet die Ablehnung des Antrags durch die Beklagte keinen rechtlichen Bedenken. Sie hat deutlich gemacht, dass die Entscheidung bewusst abweichend vom Regelermessen getroffen wird, da der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck vorliegend nicht erreichbar ist (vgl.o.). Es sind überdies keine Aspekte ersichtlich, welche zugunsten des Klägers in die Ermessensentscheidung einzustellen gewesen wären. Insbesondere besteht für die gesamte Familie des Klägers kein gesichertes Bleiberecht in der Bundesrepublik. [...]