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VG Dresden

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Zitieren als:
VG Dresden, Beschluss vom 07.05.2024 - 1 L 790/23.A - asyl.net: M32407
https://www.asyl.net/rsdb/m32407
Leitsatz:

Langjährige nichteheliche Paarbeziehung kann Abschiebungsandrohung entgegenstehen

1. Auch langjährige nichteheliche Paarbeziehungen können gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AsylG familiäre Bindungen darstellen, die einer Abschiebungsandrohung entgegenstehen.

2. Das gilt auch dann, wenn die Partnerin/der Partner lediglich über eine asylverfahrensrechtliche Aufenthaltsgestattung und keine Aufenthaltserlaubnis verfügt. In der nationalen Rechtsprechung ist zwar umstritten, wie gefestigt das Aufenthaltsrecht von Familienangehörigen sein muss, um einer Abschiebungsandrohung gemäß § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 AsylG entgegenstehen zu können. Vorzugswürdig erscheint mit Blick auf die grund- und konventionsrechtlich geschützte familiäre Lebensgemeinschaft jedoch, dabei auch solche Personen zu berücksichtigen, die kein über eine Aufenthaltsgestattung hinausgehendes, "gesichertes" Aufenthaltsrecht besitzen.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: BVerfG: Beschluss vom 17.04.2024 – 2 BvR 244/24 – asyl.net: M32431; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 03.04.2024 - 14a L 239/24.A - asyl.net: M32327)

Schlagwörter: Abschiebungsandrohung, familiäre Lebensgemeinschaft, nichteheliche Lebensgemeinschaft, Familieneinheit, offensichtlich unbegründet,
Normen: AsylG § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 4, RL 2008/115/EG Art. 5 Bst. b, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8 Abs. 1, AsylG § 55 Abs. 1 S. 1
Auszüge:

[...]

Nach obigen Maßgaben bestehen im Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts (§ 77 Abs. 1 AsylG) ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsandrohung zumindest im Hinblick auf § 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG in der seit dem 27. Februar 2024 geltenden Fassung (nachfolgend: n.F.) insoweit, als dass die Abschiebungsandrohung nach Bekanntgabe einer Ablehnung des hier gegenständlichen Eilrechtsschutzantrages sofort vollziehbar wäre, während der (nichteheliche) Lebensgefährte/Partner der Antragstellerin, Herr …, aufgrund der von diesem am 30. Oktober 2023 - fristgemäß - mit aufschiebender Wirkung erhobenen Klage (1 K 1919/23.A) gegen den Bescheid des Bundesamtes vom 17. Oktober 2023 (Gz. ...) über ein nationalrechtliches Bleiberecht in Form einer nicht erloschenen Aufenthaltsgestattung (vgl. §§ 55, 67 AsylG) verfügt und derzeit nicht abgeschoben werden könnte.

Die Antragstellerin und der venezolanische Staatsangehörige … führen nach eigenen, übereinstimmenden Angaben seit dem Jahr 2017 eine (nichteheliche) Lebensgemeinschaft. Sie haben Venezuela am 6. Juli 2023 gemeinsam verlassen und sind am 7. Juli 2023 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist, haben hier [am] 12. Juli 2023 ein Asylgesuch geäußert und jeweils am 21. August 2023 einen förmlichen Asylantrag gestellt. Sie wohnen in Deutschland derzeit zusammen in … Das Bundesamt hat den Asylantrag des Lebensgefährten mit Bescheid vom 17. Oktober 2023 (Gz. ...-367) als einfach unbegründet abgelehnt. Hiergegen hat dieser am 30. Oktober 2023 beim Verwaltungsgericht Dresden Klage (1 K 1919/23.A) mit dem Ziel der Verpflichtung der Antragsgegnerin auf Zuerkennung subsidiären Schutzes, hilfsweise Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG, erhoben, über die noch nicht entschieden worden ist.

Eine Abschiebung der Antragstellerin würde voraussichtlich zu einer Trennung von ihrem Lebensgefährten auf derzeit nicht absehbare Zeit führen. Es bestehen daher ernstliche Zweifel, ob die Abschiebungsandrohung des Bundesamtes den familiären Bindungen der Antragstellerin zu ihrem Partner im Sinne von Art. 5 Buchst. b der Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) hinreichend Rechnung trägt und mit Art. 34 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AsylG n.F. vereinbar ist. [...]

Aus der Begründung des angefochtenen Bescheids vom 18. Oktober 2023 lässt sich eine hinreichende Beurteilung der Situation der Antragstellerin und Abwägung der widerstreitenden Interessen nicht entnehmen. Der über die üblichen Textbausteine hinausgehende individuelle Teil der Begründung (dort Ziffer 5) beschränkt sich auf folgenden Satz (vgl. Seite 9 des Bescheids):

"Die Antragstellerin hat zu möglichen Kindeswohlbelangen bzw. familiären Bindungen in Deutschland weder etwas vorgetragen noch sonst sind im Entscheidungszeitpunkt derartige Belange aus dem Akteninhalt ersichtlich."

Diese Aussage in der Bescheidbegründung ist offensichtlich falsch. Nachdem das Bundesamt die familiären Bindungen der Antragstellerin zu ihrem Lebensgefährten von vornherein nicht in die Prüfung eingestellt hat, hat es sich auch mit der Frage der Zumutbarkeit der Trennung der Partner nicht befasst. Insofern ist insbesondere zu berücksichtigen, dass derzeit nicht absehbar ist, wie lange die Trennung voraussichtlich andauern würde. Entscheidungszeitpunkt und Ausgang des gerichtlichen Klageverfahrens des Lebensgefährten sind offen. Demgegenüber ist ein besonderes, über den Normalfall hinausgehendes öffentliches Vollziehungsinteresse nicht ersichtlich. Das Gericht erachtet es daher im Hinblick auf die hier streitgegenständliche Vollziehbarkeit der Abschiebungsandrohung derzeit für geboten, durch Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage der Antragstellerin vorläufig einen weitgehenden Gleichlauf deren Verfahrens mit dem Verfahren ihres Partners herzustellen.

Dass der Partner der Antragstellerin lediglich über eine asylverfahrensrechtliche Aufenthaltsgestattung verfügt, steht dieser Bewertung nicht entgegen. Die Frage, wie gefestigt ein Aufenthaltsrecht des Familienangehörigen sein muss, um dem Erlass einer Rückkehrentscheidung, hier der Abschiebungsandrohung, nach Art. 5 Buchst. a oder b der Richtlinie 2008/115/EG entgegenstehen zu können, ist in der – nationalen - Rechtsprechung auch nach Ergehen der o. g. Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs umstritten […]. Nach summarischer Prüfung erscheint die Annahme vorzugswürdig, dass sich die gebotene Interessenabwägung und Zumutbarkeitsprüfung im Falle eines sich berechtigt im Bundesgebiet aufhaltenden Familienangehörigen nicht auf die Aussage beschränken kann, dass der Familienangehörige kein über eine bloße Aufenthaltsgestattung hinausgehendes "gesichertes" Aufenthaltsrecht besitze. [...]