VG Wiesbaden

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Zitieren als:
VG Wiesbaden, Beschluss vom 23.04.2024 - 4 L 353/24.WI.A - asyl.net: M32421
https://www.asyl.net/rsdb/m32421
Leitsatz:

Maßgeblicher Zeitpunkt für Minderjährigkeit bei Ablehnung als offensichtlich unbegründet ist der Tag der Anhörung:

"1. Der "Austausch" der Offensichtlichkeitsgründe der Nummern 1 und 2 des § 30 Abs. 1 AsylG in der seit 27.02.2024 geltenden Fassung begegnet keinen erheblichen rechtlichen Bedenken.

2. Zur angemessenen Berücksichtigung des Kindeswohls und Minderjährigenschutzes ist für die Anwendung des Ausschlusses nach § 30 Abs. 2 AsylG in der seit 27.02.2024 geltenden Fassung bzw. Art. 25 Abs. 6 UAbs. 2 Buchst. a) der Asylverfahrensrichtlinie RL 2013/32/EU auf denjenigen Zeitpunkt abzustellen, in dem der Schutzsuchende diejenige Handlung vorgenommen bzw. letztmalig unterlassen hat oder diejenigen Angaben gemacht hat, die die Offensichtlichkeitsentscheidung nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AsylG tragen.

3. Im Rahmen von § 30 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG in der seit 27.02.2024 geltenden Fassung bedeutet dies, dass auf den Zeitpunkt abzustellen ist, in dem der Schutzsuchende die belanglosen Umstände zuletzt vorgebracht (Nr. 1) bzw. die eindeutig unstimmigen und widersprüchlichen, eindeutig falschen oder offen­sichtlich unwahrscheinlichen Angaben (Nr. 2) gemacht hat. Dies wird in der Regel, wie auch im vorliegenden Fall, der Zeitpunkt der Anhörung sein."

(Amtliche Leitsätze; anderer Ansicht, wonach für die Minderjährigkeit im Rahmen des § 30 Abs. 2 AsylG der Zeitpunkt der Einreise maßgeblich ist: VG Ansbach, Beschluss vom 02.01.2024 - AN 10 S 23.31732 - gesetze-bayern.de)

Schlagwörter: offensichtlich unbegründet, minderjährig, Beurteilungszeitpunkt, Anhörung, Einreise, Türkei, Kurden,
Normen: AsylG § 30 Abs. 2, AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 30 Abs. 1 Nr. 2
Auszüge:

[...]

1. Die Ablehnung des internationalen Schutzes als offensichtlich unbegründet ist zumindest im Ergebnis zu Recht erfolgt. [...]

a) Nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG n.F. ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn der Ausländer im Asylverfahren nur Umstände vorgebracht hat, die für die Prüfung des Asylantrags nicht von Belang sind. [...]

Soweit der Antragsteller diesbezüglich vorgetragen hat, aus einer sehr armen Familie zu stammen und in der Türkei keine Perspektive gehabt zu haben, handelt es sich um rein wirtschaftliche Fluchtgründe, die weder eine Verfolgung noch einen ernsthaften Schaden zu begründen vermögen. [...]

Ansonsten gab der Antragsteller an, persönlich keinen Ärger mit dem Staat gehabt und auch keine persönlichen Bedrohungen erlebt zu haben.

b) Ob der vom Bundesamt in Anwendung gebrachte § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG n.F. auch insoweit einschlägig ist, als der Antragsteller darüber hinaus eine Gruppenverfolgung von Kurden in der Türkei geltend macht, erscheint fraglich. Die Frage kann allerdings dahinstehen, denn soweit der Antragsteller angibt, ihm drohe deswegen eine asylrechtlich relevante Gefahr, handelt es sich um offensichtlich unwahrscheinliche Angaben, die im Widerspruch zu hinreichend gesicherten Herkunftslandinformationen stehen, sodass jedenfalls nach § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG n.F. der Asylantrag auch insoweit als offensichtlich unbegründet abzulehnen ist.

Der Antragsteller trug im Rahmen seiner Anhörung über das unter a) bereits behandelte Vorbringen hinaus ausschließlich Handlungen gegenüber anderen Personen, insbesondere seinem Vater vor, der aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit Probleme mit dem Staat bekommen habe. Aufgrund dieser habe auch der Antragsteller selbst immer in Angst gelebt. Er macht insofern geltend, dass wegen der allgemeinen Lage von Kurden in der Türkei, auch ihm aufgrund seiner kurdischen Volkszugehörigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung bzw. ein ernsthafter Schaden drohe. Ob dieser Vortrag, der das Bundesamt immerhin zu einer ausführlichen Auseinandersetzung mit der insoweit bestehenden Erkenntnislage veranlasste, als für die Prüfung des Asylantrags belanglos angesehen werden kann, erscheint zumindest zweifelhaft [...]. Die Gefahr einer Gruppenverfolgung ist nämlich für die Prüfung der Flüchtlingseigenschaft nicht per se ohne Belang. [...]

Ob § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG n.F. vor diesem Hintergrund einschlägig ist, bedarf im vorliegenden Fall allerdings keiner Beantwortung, da eine dem Antragsteller deswegen drohende beachtliche Gefahr der Verfolgung oder eines ernsthaften Schadens unter Berücksichtigung der gesicherten Herkunftslandinformationen jedenfalls offensichtlich unwahrscheinlich und daher für die Begründung seines Asylantrags offensichtlich nicht überzeugend ist. Die Offensichtlichkeitsentscheidung kann somit jedenfalls auf § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG n.F. gestützt werden.

Da § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG n.F., der Art. 32 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 31 Abs. 8 Buchst. e) der Asylverfahrensrichtlinie umsetzt, insoweit § 30 Abs. 3 Nr. 1 AsylG a.F. entspricht, als dieser ein Vorbringen verlangte, das offenkundig den Tatsachen nicht entspricht [...], können die zu der alten Rechtslage entwickelten Maßstäbe entsprechend übertragen werden. Danach war erforderlich, dass sich zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung (nach Stand von Rechtsprechung und Lehre) die Ablehnung des Asylantrags geradezu aufdrängt [...]. Das ist hier der Fall. [...]

Nach den aktuellen Erkenntnissen unterliegen kurdische Volkszugehörige in der Türkei zwar einer gewissen Diskriminierung. Es fehlt aber offensichtlich an der für die Annahme einer Gruppenverfolgung erforderlichen kritischen Verfolgungsdichte. [...]

Der Anwendung von § 30 Abs. 1 Nr. 2 AsylG n.F. steht auch nicht entgegen, dass das Bundesamt ausschließlich § 30 Abs. 1 Nr. 1 AsylG n.F. zur Anwendung gebracht hat. Der "Austausch" der Offensichtlichkeitsgründe der Nummern 1 und 2 des § 30 Abs. 1 AsylG n.F. begegnet keinen erheblichen rechtlichen Bedenken. Bereits unter der Geltung des § 30 AsylG a.F. war ein "Austausch" von Offensichtlichkeitsgründen nach überwiegender, wenn auch nicht unumstrittener Auffassung der Verwaltungsgerichte zulässig [...].

c) Dieser Beurteilung steht auch nicht § 30 Abs. 2 AsylG n.F. entgegen. Nach dieser Vorschrift findet auf unbegleitete Minderjährige § 30 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AsylG n.F. keine Anwendung. § 30 Abs. 2 AsylG n.F. setzt dabei Art. 25 Abs. 6 UAbs. 2 Buchst. a) der Asylverfahrensrichtlinie um [...]. Nach Art. 25 Abs. 6 der Asylverfahrensrichtlinie Berücksichtigen die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung der Richtlinie vorrangig das Kindeswohl (UAbs. 1), weshalb Mitgliedstaaten die feststellen, dass der Betroffene ein unbegleiteter Minderjähriger ist, Art. 31 Abs. 8 der Asylverfahrensrichtlinie nur unter den dort genannten Voraussetzungen – die hier nicht vorliegen – anwenden oder weiter anwenden (UAbs. 2 Buchst. a).

Auf den Antragsteller, der zwar zum Zeitpunkt seiner Einreise und der Asylantragstellung minderjährig war, aber noch vor seiner Anhörung volljährig geworden ist, findet nach Auffassung des Einzelrichters § 30 Abs. 2 AsylG n.F. keine Anwendung.

Das Asylgesetz bestimmt nicht, wer als "unbegleiteter Minderjähriger" im Sinne des § 30 Abs. 2 AsylG n.F. gilt. [...]

Dem Kindeswohl liefe es zuwider, in dieser Frage auf § 77 Abs. 1 S. 1 AsylG und damit den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung bzw. hier der gerichtlichen Entscheidung abzustellen. Denn dadurch wäre § 30 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AsylG n.F. auch dann anzuwenden, wenn sich das behördliche oder gerichtliche Asylverfahren eines zunächst minderjährigen Ausländers aus Gründen verzögert, die nicht in seine Sphäre fallen und er infolge dieser Verzögerung zu dem in § 77 Abs. 1 S. 1 AsylG genannten Zeitpunkt das 18. Lebensjahr bereits vollendet hat. Eine derartige Rechtsauslegung ist mit dem unionsrechtlich vorgesehenen und nunmehr durch § 30 Abs. 2 AsylG n.F. ausdrücklich umgesetzten Schutzzweck nicht vereinbar [...].

Dasselbe gilt auch in Bezug auf den Zeitpunkt des Erlasses bzw. der Zustellung des Bescheides des Bundesamtes, denn auch dadurch würden dem Schutzsuchenden Nachteile aufgrund von (behördlichen) Verfahrensverzögerungen entstehen [...].

Zur angemessenen Berücksichtigung des Kindeswohls und Minderjährigenschutzes ist für die Anwendung des Ausschlusses nach § 30 Abs. 2 AsylG n.F. bzw. Art. 25 Abs. 6 UAbs. 2 Buchst. a) der Asylverfahrensrichtlinie vielmehr auf denjenigen Zeitpunkt abzustellen, in dem der Schutzsuchende diejenige Handlung vorgenommen bzw. letztmalig unterlassen hat oder diejenigen Angaben gemacht hat, die die Offensichtlichkeitsentscheidung nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 bis 6 AsylG n.F. tragen. Dadurch wird sichergestellt, dass einem zu diesem Zeitpunkt unbegleiteten Minderjährigen kein Verhalten und keine Angaben zum Nachteil gereichen, das bzw. die auf seiner fehlenden Reife beruht bzw. beruhen, selbst wenn er vor Abschluss des Asylverfahrens volljährig wird.

Im Rahmen der hier maßgeblichen Nummern 1 und 2 des § 30 Abs. 1 AsylG n.F. bedeutet dies, dass auf den Zeitpunkt abzustellen ist, in dem der Schutzsuchende die belanglosen Umstände zuletzt vorgebracht (Nr. 1) bzw. die eindeutig unstimmigen und widersprüchlichen, eindeutig falschen oder offensichtlich unwahrscheinlichen Angaben (Nr. 2) gemacht hat. Dies wird in der Regel, wie auch im vorliegenden Fall, der Zeitpunkt der Anhörung sein. Dadurch wird dem Umstand Rechnung getragen, dass ein zum Zeitpunkt der Anhörung Minderjähriger aufgrund seiner geistigen und sozialen Entwicklung und fehlenden Reife gegebenenfalls noch nicht fähig sein mag, seine Fluchtgründe geordnet und frei von Widersprüchen darzulegen sowie seine Belange in seinem Asylverfahren ausreichend vertreten zu können, dieses besondere Schutzbedürfnis aber nicht mehr besteht, wenn der Betroffene zu dem Zeitpunkt, in dem er die maßgeblichen Angaben gemacht hat, bereits volljährig geworden ist (ebenso in unionsrechtskonformer Auslegung von § 30 AsylG a.F.: VG Berlin, Beschluss vom 26.01.2023 - 39 L 610/22 A-, juris Rn. 13). Zwar ist nicht zu verkennen, dass die Anwendung des § 30 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG n.F. damit maßgeblich davon abhängt, ob das Bundesamt einen zum Zeitpunkt der Asylantragstellung noch minderjährigen Jugendlichen vor oder nach seinem 18. Geburtstag anhört. [...]

Auch soweit in der Rechtsprechung maßgeblich auf den Zeitpunkt der Einreise des Betroffenen abgestellt wird (vgl. VG Ansbach, Beschluss vom 02.01.2024 - AN 10 S 23.31732 -, juris Rn. 23), stellt dies eine nicht durch das Kindeswohl gerechtfertigte Ausweitung des Minderjährigenschutzes dar. [...]