VG Hamburg

Merkliste
Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 06.05.2024 - 11 A 1542/20 - asyl.net: M32436
https://www.asyl.net/rsdb/m32436
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für oppositionell aktive Person aus Nicaragua:

1. Insgesamt ist die menschenrechtliche Situation in Nicaragua sehr prekär. Willkürliche Inhaftierungen sind an der Tagesordnung. Das nicaraguanische Regime nimmt zunehmend totalitäre Züge an. Die nicaraguanische Regierung geht nach wie vor massiv gegen oppositionell eingestellte Personen vor.

2. Eine Person, die 2018 aktiv an den prodemokratischen Demonstrationen in Nicaragua teilgenommen hat, in diesem Zusammenhang von der Polizei befragt worden ist und seit Jahren exilpolitisch aktiv ist, droht bei Rückkehr politische Verfolgung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Nicaragua, politische Verfolgung, Protest, Demonstrationen, Opposition, Polizei, Ausreise
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]

1. Nach § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und Anerkennung der Asylberechtigung (wie hier bei Einreise auf dem Luftweg) dann, wenn der Betroffene Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist bzw. aus diesem Grund politisch verfolgt i.S.v. Art. 16a Abs. 1 GG wird. [...]

Dem Kläger droht im Falle einer Rückkehr nach Nicaragua dort mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus einem der in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Gründe.

Denn nach dem glaubhaften Vortrag des Klägers und unter Berücksichtigung der Situation in Nicaragua wie sie sich nach den vorliegenden Erkenntnisquellen darstellt (hierzu unter a)), steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger in Nicaragua im Falle einer Rückkehr von Verfolgung durch den nicaraguanischen Staat bedroht wäre (hierzu unter b)). Dem Kläger steht eine inländische Fluchtalternative nicht zur Seite (hierzu unter c)). Ausschlussgründe nach § 60 Abs. 8 AufenthG liegen nicht vor (hierzu unter d)).

a) In Nicaragua kam es während und nach den Protesten ab April 2018 im Zuge stark autoritärer Entwicklungen der Ortega-Regierung zu einer zunehmenden Erosion der bürgerlichen Freiheitsrechte sowie der politischen Partizipationsrechte. Politisch zeichnet sich der Staat durch fehlende Gewaltenteilung sowie ein stark auf die Exekutive bzw. den Präsidenten, Daniel Ortega, und seine Frau, Vizepräsidentin Rosario Murillo, ausgerichtetes zentristisches Staatssystem aus. Außerdem besteht eine signifikante Dominanz der Partei Ortegas, der Frente Sandinista de Liberación Nacional (FSLN), und regierungstreuer Gefolgsleute über alle Institutionen hinweg. [...]

Im Zuge der am 18. April 2018 offiziell verkündeten Sozialversicherungsreform, verbunden mit einer Erhöhung der Arbeitnehmerbeiträge und einer gleichzeitigen Rentenkürzung um 5%, kam es zunächst in León und Managua, schließlich landesweit zu einer großen, vorwiegend friedlichen Protestwelle mit Teilnehmenden aus diversen Gruppen der Zivilgesellschaft unter Führung der Studierenden [...]. Während der nächsten Wochen und Monate folgten Massenproteste, die sich immer stärker auch allgemein gegen die sandinistische Regierung richteten und denen zunehmend gewaltsam durch staatliche und parastaatliche Akteure begegnet wurde. Es kam zu vielen Verletzten und Toten, willkürlichen Festnahmen und dem Verschwindenlassen von Personen. [...]

Seit den Protesten setzte sich die Unterdrückung oppositioneller und unabhängiger Stimmen fort, es kam weiterhin zu willkürlichen Verhaftungen. Formelle Anklagen erfolgten statt aufgrund von vermeintlichen Terrorismusvergehen zunehmend wegen Bagatelldelikten. Politisch Andersdenkende und Medienschaffende berichteten von Überwachung, Proteste wurden häufig noch vor Beginn durch die Polizei unterbunden oder mitunter gewaltsam beendet [...]. Am 8. Juni 2019 verabschiedete das Parlament (Asamblea Nacional) das Gesetz N° 996 (Ley de Amnistía), welches allen Involvierten für Ihre Aktivitäten im Zuge der Proteste ab 18. April 2018 gleichermaßen Amnestie gewährt, woraufhin Freilassungen und Beendigungen laufender Verfahren erfolgten. Allerdings sehen Oppositionelle, aber auch die Zivilgesellschaft in diesem Gesetz vielmehr die Grundlage, Menschenrechtsverbrechen seitens der Sicherheitsbehörden und regierungstreuer Akteure während der Proteste ungeahndet zu lassen. Zudem kritisierten sie den im Gesetz enthaltenen Vorbehalt, Personen bei gleichartigen zukünftigen Verstößen gegen die allgemeine Sicherheit oder öffentliche Ruhe wieder in Haft nehmen zu dürfen. [...]

Insgesamt ist die menschenrechtliche Situation in Nicaragua sehr prekär. Willkürliche Inhaftierungen werden laufend dokumentiert und sind an der Tagesordnung [...]. Das nicaraguanische Regime nimmt zunehmend totalitäre Züge an [...]. Zuletzt am 12. September 2023 stellte die Expertengruppe der Vereinten Nationen zu Nicaragua erneut die eskalierende Verfolgung Andersdenkender und Unterdrückung unabhängiger akademischer Einrichtungen fest [...]. Eine neue Welle von Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua in den letzten sechs Monaten unterdrücke abweichende Meinungen ernsthaft und verschärfe die Verfolgung. [...]

Diese Erkenntnisquellen zeigen eindrücklich auf, dass die nicaraguanische Regierung nach wie vor massiv gegen oppositionell eingestellte Personen vorgeht. Repressionen und diskriminierende Handlungen gegenüber Menschen mit oppositioneller politischer Gesinnung erfolgen entweder direkt durch staatliche Sicherheitskräfte oder durch parastaatliche Akteure, deren Handlungen toleriert und in der Mehrheit der Fälle weder sanktioniert noch verfolgt werden. Oppositionelle Personen werden nach den Erkenntnismitteln häufig mit unverhältnismäßiger Gewalt, fehlender Anklageerhebung sowie Verwehrung eines Anwalts festgenommen. Dabei werden mitunter widerrechtliche Einschränkungen der Bewegungsfreiheit sowie Folter und Misshandlung bei Vernehmungen oder in Polizeieinrichtungen beobachtet. [...]

b) Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnislage kann dahinstehen, ob der Kläger bereits einer Vorverfolgung im Sinne des Art. 4 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU in Nicaragua ausgesetzt beziehungsweise unmittelbar von ihr bedroht war. Jedenfalls hat das Gericht bei einer Gesamtschau der herangezogenen Erkenntnismittel und aufgrund der glaubhaften Angaben des Klägers keine Zweifel daran, dass er als Person, die aktiv an den prodemokratischen Protesten in seinem Heimatland teilgenommen hat, in diesem Zusammenhang von der Polizei befragt wurde und sich seit mehreren Jahren in vielerlei Hinsicht exilpolitisch betätigt, um auf das in seinem Heimatland begangene staatliche Unrecht aufmerksam zu machen und deshalb als Oppositioneller gilt, in Nicaragua im Falle einer Rückkehr von Verfolgung durch den nicaraguanischen Staat bedroht wäre. [...]