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VG Göttingen

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Zitieren als:
VG Göttingen, Urteil vom 17.10.2023 - 4 A 161/20 - asyl.net: M32455
https://www.asyl.net/rsdb/m32455
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz wegen häuslicher Gewalt:

Der iranische Staat ist nicht willens, Frauen vor häuslicher Gewalt zu schützen. Insbesondere fehlt es an wirksamen Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von entsprechenden Handlungen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, häusliche Gewalt, subsidiärer Schutz,
Normen: AsylG § 4
Auszüge:

[...]

Der Klägerin droht danach bei einer möglichen Rückkehr in ihr Heimatland keine für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft relevante Verfolgung. Es fehlt bereits an dem Anknüpfungsmerkmal der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe oder Verfolgung wegen eines tatbestandlich vorausgesetzten Merkmals. Dabei bilden Frauen, die – wie die Klägerin – von häuslicher bzw. familiärer Gewalt betroffen sind, in Iran keine soziale Gruppe im Sinne des § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Sie haben keine deutlich abgrenzbare Identität und ihnen wird auch keine solche deutlich abgegrenzte Identität zugeschrieben, da die betroffenen Frauen von der sie umgebenden Gesellschaft nicht als andersartig und "gesellschaftlicher Fremdkörper" betrachtet werden [...].

Auch wenn von einer rechtlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung von Frauen im Iran auszugehen ist, sind sie nicht bloß aufgrund ihres Geschlechts als soziale Gruppe im Sinne des § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anzusehen. Frauen im Iran werden von der sie umgebenden Gesellschaft nicht als "andersartig" betrachtet und haben keine deutlich abgegrenzte Identität gegenüber der Gesamtbevölkerung in Iran. Vielmehr bestehen dort auch für Frauen rechtlich durchsetzbare Rechte. Trotz der schwierigen Situation von Frauen in Iran erreichen die teilweise ausbleibenden staatlichen Schutzmaßnahmen vor gesellschaftlichen Konventionen und moralisch-sittlichen Traditionen in Kumulation mit staatlicher Diskriminierung nicht ein so gravierendes Ausmaß, dass dies eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte i. S. d. § 3 a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG darstellt [...].

Die Klägerin hat jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Satz 2 Nr. 2 AsylG. [...]

Die Klägerin hat glaubhaft dargelegt, dass sie in Iran erheblicher physischer und psychischer Gewalt durch ihren ersten Ehemann ausgesetzt war. [...]

Die Gefahr des erheblichen Schadens für die Klägerin ging damit von einem nichtstaatlichen Akteur i. S. d. § 3 c Nr. 3 AsylG, nämlich von dem (Ex-)Ehemann der Klägerin, aus. Der iranische Staat war und ist nicht willens bzw. in der Lage, die Klägerin hiervor zu schützen.

In Iran besteht ausweislich der Erkenntnislage eine erhebliche Schwierigkeit, Schutz vor häuslicher Gewalt zu finden. Die für die Ahndung häuslicher Gewalt zuständigen Stellen sind nicht erwiesenermaßen willens, wirksamen Schutz im von § 3 d Abs. 2 AsylG vorgegebenen Umfang zu gewähren. An der Einleitung geeigneter Schritte, um Gewaltanwendungen zu verhindern, insbesondere an wirksamen Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung von entsprechenden Handlungen fehlt es. [...]