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VG Bremen

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Zitieren als:
VG Bremen, Urteil vom 16.02.2024 - 3 K 320/22 - asyl.net: M32570
https://www.asyl.net/rsdb/m32570
Leitsatz:

Flüchtlingsschutz für Familienangehörige ehemaliger Sicherheitskräfte: 

1. Entgegen der Ansicht des Bundesamtes kommt es bei der Frage, ob Familienangehörige ehemaliger Sicherheitskräfte als Flüchtlinge anzuerkennen sind, nicht auf die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe an.  Hier ist die unterstellte oppositionelle politische Überzeugung Grund für die flüchtlingsschutzrelevante Verfolgungshandlung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG.

2. Bei dem Risikoprofil der Familienmitglieder ehemaliger Regierungsmitarbeiter und Sicherheitskräfte kann nicht generell von der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung ausgegangen werden. Ein erhöhtes Risiko besteht für Familienangehörige insbesondere in den Fällen, in denen die Taliban nach ihren Angehörigen suchen. 

(Leitsätze der Redaktion) 

Schlagwörter: Afghanistan, Militär, Nationalgarde, Sippenhaft, Taliban,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]

Gemessen an den oben ausgeführten Grundsätzen ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger, jedenfalls seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021, im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der beruflichen Tätigkeit seiner Familienangehörigen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung durch die Taliban bis hin zu seinem Tod zu befürchten hätte. Entgegen der in dem angefochtenen Bescheid dargelegten Auffassung des Bundesamtes kommt es nicht auf die Frage an, ob der Kläger einer bestimmten sozialen Gruppe zugeordnet werden kann. Vor dem Hintergrund der Tätigkeit des Vaters des Klägers für das afghanische Militär handelt es sich um an eine dem Kläger unterstellte oppositionelle politische Überzeugung anknüpfende flüchtlingsschutzrelevante Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG.

Der Kläger hat glaubhaft dargelegt, dass sein Vater und dessen Cousin in der afghanischen Armee gearbeitet und in diesen Funktionen den Kampf gegen die Taliban aktiv unterstützt haben. [...]

Der Erkenntnismittellage kann zwar nicht entnommen werden, dass in Bezug auf das Risikoprofil der Familienmitglieder ehemaliger Regierungsmitarbeiter und Sicherheitskräfte generell von der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung auszugehen ist. So wird bereits die Einschätzung, ob und ggf. welche Gefahren ehemaligen Regierungsmitarbeitern und Sicherheitskräften selbst in Afghanistan drohen, differenziert und grundsätzlich einzelfallbezogen betrachtet [...]. Die Ermittlung Familienangehöriger dieser Personengruppen drohenden Gefahren dürfte im Grundsatz daran anknüpfend zu bestimmen sein. [...]

Ein erhöhtes Risiko besteht für Familienangehörige insbesondere in den Fällen, in denen die Taliban nach der Person suchen, mit der sie verwandt sind, da die Taliban-Regierung Familienangehörige gesuchter Personen oft als Druckmittel verwendet. [...]