Vorläufige Anwendungshinweise zum Staatsangehörigkeitsgesetz - Bekenntnis zur freiheitlich demokratischen Grundordnung
10.1.1.1.0 Allgemeines
Der Antragsteller hat spätestens vor der Aushändigung der Einbürgerungsur-kunde, die unter Nr. 10.1.1.1.1 und 10.1.1.1.3 ausgeführten Bekenntnisse und die in 10.1.1.1.2 ausgeführte Loyalitätserklärung abzugeben. Vor der Abgabe der Bekenntnisse und der Erklärung ist der Antragsteller über deren Bedeutung schriftlich und mündlich zu belehren.
Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung ist eine materielle und keine rein formelle Einbürgerungsvoraussetzung. Das Bekenntnis soll dem Antragsteller vor Augen führen, dass er sich den Grundprinzipien der deut-schen Verfassungsordnung glaubhaft zuwenden muss. Das Bekenntnis muss inhaltlich zutreffen, d.h. von einer inneren Hinwendung zur Verfassungsordnung getragen sein. Wurde das Bekenntnis unter innerem Vorbehalt abgegeben („Lippenbekenntnis“), ist es nicht wirksam (siehe nur VGH München, Urteil vom 19.1.2012 – 5 B 11.732).
Mit dem Bekenntnis dokumentiert der Antragsteller seine innere Hinwendung zur Bundesrepublik Deutschland als Staat (vgl. BT-Drs. 16/5107, S. 14). Dies beinhaltet, dass der Antragsteller die Befugnis des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zur Rechtsetzung vorbehaltlos akzeptiert, auch dann, wenn das staatliche Recht in Widerspruch zu vermeintlichen oder tatsächlichen religiösen Geboten steht. Der Primat staatlich gesetzten Rechts vor religiösen Geboten ist auch im Falle eines Konflikts uneingeschränkt zu bejahen (BVerwG, Urteil vom 29.5.2018 – 1 C 15/17 –, BVerwGE 162, 153-179, bei juris Rn. 57 f.). Wer aktiv und grundsätzlich die Beendigung der rechtlichen Existenz der Bundesrepublik Deutschland einfordert, kann kein wirksames Bekenntnis im Sinne von Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 abgeben.
Es muss zur Gewissheit der Staatsangehörigkeitsbehörde feststehen, dass das von Kenntnis getragene Bekenntnis auch der inneren Überzeugung des Antrag-stellers entspricht (zum Verfahren siehe Nr. 10.1.1.1.4). Der Antragsteller muss den Inhalt des Bekenntnisses verstanden haben. Wirksam bekennen kann sich nur, wer den Inhalt der von ihm abgegebenen Bekenntniserklärung zumindest hinsichtlich der Kernelemente kennt. Aus dem erfolgreichen Bestehen des Ein-bürgerungstests allein kann nicht auf ein ausreichendes Verständnis geschlos-sen werden, da durch den gegenwärtigen Fragenkatalog des Einbürgerungs-tests nicht alle Kerninhalte der freiheitlichen demokratischen Grundordnung abgedeckt werden.
Die voranstehenden Ausführungen gelten entsprechend für das Bekenntnis zur besonderen historischen Verantwortung Deutschlands für die nationalsozialistische Unrechtsherrschaft und ihre Folgen, insbesondere für den Schutz jüdischen Lebens, sowie zum friedlichen Zusammenleben der Völker und dem Verbot der Führung eines Angriffskrieges.
Das Bekenntnis und die Erklärung nach § 10 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 sowie das Bekenntnis nach Nummer 1a sind nicht zu fordern, wenn der Antragsteller nach Maßgabe von § 34 Satz 1 nicht handlungsfähig ist. Diese Regelung betrifft Minderjährige unter 16 Jahren und unter Betreuung stehende Personen. [...]
10.1.1.1.1.1 Zu Absatz 1 Satz 3 Antisemitisch, rassistisch oder sonstige menschenverach-tend motivierte Handlungen; Begriffserläuterungen
[...]
„Handlungen“ sind jedes beherrschbare menschliche Verhalten, einschließlich mündlicher oder schriftlicher Äußerungen, in Deutsch oder in anderen Spra-chen, auch im öffentlich sichtbaren Teil sozialer Netzwerke, etwa durch die Nutzung der Kommentarfunktion, der Funktion „Gefällt mir“ („Like“), der Nutzung eines Profilbildes, des Einstellens („Posten“) oder des Verbreitens beziehungs-weise Teilens von Beiträgen, die aus Sicht des objektiven Empfängerhorizonts antisemitischen, rassistischen und sonstig menschenverachtenden Inhalt ha-ben.
Die nachfolgend (nicht abschließend) beschriebenen Handlungen können Anhaltspunkte sein, die inhaltliche Richtigkeit des Bekenntnisses zu hinterfragen (zum Verfahren siehe Nr. 10.1.1.1.4):
„Antisemitisch motiviert“ ist eine Handlung, wenn als Juden wahrgenommenen Einzelpersonen, Gruppen oder Institutionen aufgrund dieser Zugehörigkeit negative Eigenschaften unterstellt werden, d.h. die Feindschaft gegen Juden als Juden (vgl. BT-Drs. 18/11970, S. 24).
Zur weiteren Orientierung kann auch auf die von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA – Internationale Allianz zum Holocaustgedenken) verwendete Arbeitsdefinition zurückgegriffen werden (vgl. holo-caustremembrance.com/resources/arbeitsdefinition-antisemitismus).
Die Bundesregierung hat die Arbeitsdefinition mit Kabinettbeschluss vom 20.9.2017 politisch indossiert und damit ein gemeinsames Verständnis von An-tisemitismus auf nationaler Ebene gelegt (vgl. www.antisemitismusbe-auftragter.de/Webs/BAS/DE/bekaempfung-antisemitismus/ihra-definition/ihra-definition-node.html; Abschlussbericht des Kabinettausschusses zur Bekämp-fung von Rechtsextremismus und Rassismus vom 20.5.2020, S. 74, online ab-rufbar https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichun-gen/themen/sicherheit/abschlussbericht-kabinettausschuss-rechtsextremis-mus.html).
[...]
Auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, kann Ziel antisemitischer Angriffe sein (vgl. BT-Drs. 19/10191, S. 1; BT- Plenarproto-koll 19/102, Sitzung vom 17.5.2019, S. 12489). Dies ist etwa der Fall, wenn „Israel“ gesagt wird und „Juden“ gemeint sind und im Zusammenhang mit Israel antisemitische Bilder, Stereotype oder Adjektive verwendet oder Morde an Juden gerechtfertigt werden (vgl. BT-Drs. 18/11970, S. 28) oder bei nachfolgenden oder vergleichbaren Äußerungen wie „Die Israelis mischen seit jeher Gift in die Geschichte“ (Metapher des Giftmischens), „Was seit 75 Jahren in Palästina stattfindet, lässt sich auch als Holocaust 2.0. bezeichnen“, „Ein Holocaust rechtfertigt keinen anderen“, „Israel ist unser Unglück“, oder anderweitigen ausdrücklichen Bezugnahmen auf die NS-Ideologie.
[...]
„Rassistisch motiviert“ ist eine Handlung, wenn ihr die Vorstellung zugrunde liegt, dass in der Bevölkerung unterschiedliche Menschengruppen bestehen, gebildet anhand von Kriterien wie Herkunft, Religionszugehörigkeit, Abstam-mung oder körperlichen Merkmalen, insbesondere Hautfarbe oder Gesichtszügen und in der Handlung zum Ausdruck kommt, dass Menschen aufgrund dieser Kriterien ungleichwertig seien (vgl. BT-Drs. 18/3007, S. 14).
„Sonstig menschenverachtend motiviert“ ist eine Handlung, wenn in ihr zum Ausdruck kommt, dass einzelne Gruppen von Menschen (Frauen, Ausländer, Menschen mit Behinderung, Obdachlose) oder Menschen im Allgemeinen als minderwertig oder verächtlich angesehen werden. Die vermeintliche Andersartigkeit einer Personengruppe wird als Rechtfertigung dazu missbraucht, Menschenrechte eines anderen Menschen zu negieren und seine Menschenwürde zu verletzen (vgl. BT-Drs. 18/3007, S. 14). Menschenverachtend motiviert in diesem Sinne können u.a. auch Handlungen sein, die gegen das Geschlecht (Partnerschaftsgewalt, Hassrede) oder gegen die sexuelle Orientierung, d.h. gegen die Freiheit des Auslebens der sexuellen Orientierung eines anderen Menschen, gerichtet sind (vgl. BT-Drs. 18/3007, S. 15 und BT-Drs. 20/5913, S. 15 ff. und 19), beispielsweise bei homophoben bzw. homosexuellenfeindlichen Handlungen, d.h. wenn in der Handlung eine abwertende Einstellung gegenüber schwulen, lesbischen und bisexuellen Personen zum Ausdruck kommt, vgl. https://www.antidiskriminierungsstelle.de/DE/ueber-diskriminierung/diskri-minierungsmerkmale/sexuelle-identitaet/sexuelle-identitaet-node.html.
[...]