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AG Itzehoe

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Zitieren als:
AG Itzehoe, Beschluss vom 23.07.2024 - 86 XIV 2374 B - asyl.net: M32597
https://www.asyl.net/rsdb/m32597
Leitsatz:

Widerstandshandlungen bei der Festnahme rechtfertigen keine Sicherheitsbegleitung bei der Abschiebung: 

1. Eine geplante Festnahme bedarf einer vorherigen richterlichen Anordnung. Im Falle einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung ist es weder geeignet noch angemessen, aus dem Verhalten des Betroffenen (hier Widerstandshandlungen gegen die Festnahme) ohne weiteres auf die Notwendigkeit einer Sicherheitsbegleitung bei der Abschiebung zu schließen. 

2. Wird eine Entscheidung in der Hauptsache getroffen, stellt es einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens dar, wenn die anwaltliche Vertretung an der Anhörung des Betroffenen nicht teilgenommen hat. Die Anhörungen des Betroffenen in öffentlicher Sitzung stellt einen Verfahrensfehler dar. 

3. Die fehlende Beiziehung einer Ausländerakte kann eine Verletzung der besonderen Amtsermittlungspflicht in Freiheitsentziehungssachen darstellen. Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, müssen auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen. Dazu ist in der Regel die Ausländerakte beizuziehen. 

(Leitsätze der Redaktion)

 

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Richter, Haftbeschluss, Sicherheitsbegleitung, begleitete Abschiebung, öffentliche Sitzung, rechtswidrige Festnahme, Ausländerakte, Widerstand, Widerstandshandlung, nichtöffentliche Sitzung,
Normen: FamFG § 68 Abs. 1 S. 1, FamFG § 417 Abs. 2, FamFG § 26, AufenthG § 62 Abs. 3a Nr. 3, AufenthG § 62 Abs. 3a Nr. 5, AufenthG § 62 Abs. 3a Nr. 6, GVG § 170 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Vorliegend stützt sich der Antragsteller darauf, dass der Betroffene beim Gesprächstermin am 13.06.2024 ein renitentes Verhalten gezeigt und gegenüber Polizeibeamten erheblichen Widerstand geleistet habe. Dieser Sachverhalt ist jedoch aus Sicht des erkennenden Gerichtes im Kontext der Gesamtsituation zu sehen. Nach den dem Gericht vorliegenden Informationen handelte es sich bei der Maßnahme am 13.06.2024 gesichert um eine sog. "geplante Festnahme", um den Betroffenen am Folgetag abschieben zu können. Ein solches Tätigwerden bedarf jedoch nach höchstrichterlicher Rechtsprechung einer vorherigen richterlichen Anordnung [...]. Dies wurde im vorliegenden Fall versäumt, obwohl eine befristete einstweilige Anordnung zur Festnahme ohne vorherige Anhörung beim Amtsgericht hätte erwirkt werden können. In solch einem Fall der rechtswidrigen Freiheitsentziehung ist es aus Sicht des erkennenden Gerichts weder geeignet noch angemessen, aus dem Verhalten eines Betroffenen, der sich einer einschneidenden rechtswidrigen staatlichen Maßnahme widersetzt, ohne weiteres auf die Notwendigkeit einer Sicherheitsbegleitung zu schließen. Mithin ist nach diesseitiger Überzeugung - unter besonderer Berücksichtigung des damit verbundenen Grundrechtseingriffes - von Seiten des Antragstellers kein hinreichender Grund referiert worden, um die Sechs-Wochen-Frist in Anspruch nehmen zu können. Nur zur Ergänzung sei erwähnt, dass die Anhörung am 22.07.2024 auch ein gänzlich anderes Bild des Betroffenen ergeben hat. [...]

Der Beschluss des Amtsgerichts Neubrandenburg war schon aus dem Grunde rechtswidrig, weil das Amtsgericht eine Entscheidung in der Hauptsache getroffen hat. Der vom Gericht bestellte anwaltliche Vertreter hat nicht an der Anhörung nicht teilgenommen und - wie er selber im Nachgang versichert hat - konnte aufgrund von Ortsabwesenheit auch überhaupt nicht teilnehmen. Es stellt dann einen Verstoß gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens dar, eine Entscheidung im Hauptsacheverfahren zu treffen, ohne dass der anwaltliche Vertreter der Anhörung beiwohnen und die Interessen des Betroffenen wahrnehmen konnte. Es hätte deshalb allenfalls im Wege der einstweiligen Anordnung entschieden werden dürfen, und zwar mit einer Dauer, innerhalb der das Hindernis behoben werden kann, also einer nochmaligen Anwesenheit im Beisein des anwaltlichen Vertreters.

Überdies ist festzustellen, dass das Amtsgericht Neubrandenburg den Beschluss vom 13.06.2024 - jedenfalls ausweislich des Protokolls - ohne Beiziehung der betreffenden Ausländerakte erlassen hat. In der übersandten Papierakte des Amtsgerichts Neubrandenburg befindet sich lediglich ein (zweifacher) Ausdruck von BI. 1 - 96 der Ausländerakte, der mit dem Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vom 10.02.2022 endet. Die unterlassene Beziehung einer Ausländerakte kann sich jedoch als eine Verletzung der besonderen Amtsermittlungspflicht des Gerichts (§ 26 FamFG) in Freiheitsentziehungssachen darstellen. Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, müssen nämlich auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht. Dazu muss der Richter selbst die Tatsachen feststellen, die Freiheitsentziehung rechtfertigen, wofür in Abschiebehaftsachen in der Regel die Beiziehung der Ausländerakte erforderlich ist [...]. Von deren Vorlage kann zwar abgesehen werden, wenn sich der festzustellende Sachverhalt aus den vorgelegten Teilen der Akte vollständig ergibt und die nicht vorgelegten Teile keine weitere Erkenntnis versprechen. Davon kann hier aber keine Rede sein, da nicht einmal die Hälfte der Ausländerakte bekannt gewesen sein kann, insbesondere auch nicht bezüglich Zustellung des BAMF-Bescheides, Klageverfahren etc..

Noch am Rande sei angemerkt, dass die Anhörung vom 13.06.2024 ausweislich der unterschriebenen Protokollniederschrift zudem in "öffentlicher Sitzung" stattgefunden haben soll, was ebenfalls einen Verfahrensfehler darstellt. Gemäß § 170 Abs. 1 GVG sind Verhandlungen, Erörterungen und Anhörungen in Familiensachen sowie in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit sind nicht öffentlich. [...]